Ein bisschen war er wie Hemingway, nur auf Deutsch. Er schrieb über die kleinen Leute und die großen Themen des Lebens. Jetzt ist der Schriftsteller und Hamburger Ehrenbürger Siegfried Lenz gestorben.
Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig und unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist“, erklärte Siegfried Lenz 1988, als man ihm den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verlieh. Wie immer war Siegfried Lenz – und das war er stets privat wie öffentlich, in seinem Schreiben und in seinem Dasein – leise gewesen und bescheiden.
Aber dieser Siegfried Lenz, der mehr als 60 Jahre lang schriftstellerisch tätig war, dessen Werk mehr als 10.000 Seiten umfasst, der Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke geschrieben hat, der weltweit knapp 30 Millionen Bücher verkaufte, hat durchaus gewirkt. Seine Literatur hat viel vermocht.
Der 1926 in Ostpreußen geborene Lenz war ein anerkannter, gefeierter und berühmter Schriftsteller. Darüber hinaus war er, so sagte es einst sein Freund, der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, „höchst beliebt und vielleicht auch geliebt“. Als Gründe dafür führte Reich-Ranicki die elementare Lebensbejahung von Lenz an, seine Herzlichkeit und Menschenfreundlichkeit. Lenz widmete seinerseits dem Kritiker eine Erzählung, in der er Reich-Ranicki als den „Großen Zackenbarsch“ bezeichnet, jenen Fisch, der im Aquarium das Leben (oder besser dessen Abbild, die Literatur) reguliert, sich durch keinen Köder verführen lässt, viel Appetit hat, aber seine Beute keineswegs wahllos verschlingt. Eine eher liebevolle als vergiftete Huldigung, die Autoren und Kritiker gewöhnlich meist verbindet.
„Ich wurde am 17. März 1926 in Lyck geboren, einer Kleinstadt zwischen zwei Seen, von der die Lycker behaupteten, sie sei die ,Perle Masurens‘. Die Gesellschaft, die sich an dieser Perle erfreute, bestand aus Arbeitern, Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten Fischern, geschickten Besenbindern und geduldigen Beamten“ schrieb Lenz in seiner „Autobiografischen Skizze“.
Aus genau solchen Menschen setzt sich das lenzsche Werk zusammen. Und genau das machte Lenz zum Volksschriftsteller.
Fischer wollte Lenz ursprünglich werden. Oder Spion. Jedenfalls wollte er einen Beruf ergreifen, in dem nicht viel gesprochen wird. „Ich wüsste nicht, was ich lieber täte als Schreiben“, erklärt Lenz an anderer Stelle seiner „Autobiografischen Skizze“. „Doch was ich ebenso gern tue, das ist Fischen – eine Tätigkeit, bei der es nicht auf die Beute ankommt, sondern auf das Gefühl der Erwartung“.
In Hamburg und Dänemark hatte Siegfried Lenz seine Wohnsitze
Siegfried Lenz wurde 1943 nach dem Notabitur in den Weltkrieg geschickt, zur Kriegsmarine. Kurz vor Kriegsende desertierte er in Dänemark, kam 1945 in britische Gefangenschaft und landete später in Hamburg. Hier und in Dänemark hatte er bis zum seinem Tod seine Wohnsitze. Lenz begann Philosophie, Anglistik und Literatur zu studieren, wurde Volontär bei der „Welt“ und schrieb 1949 seine erste Kurzgeschichte, „Die Nacht im Hotel“, eine Vater-Sohn-Geschichte, die wie so viele Werke von Lenz, in einer Männerwelt spielt.
1951 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Es waren Habichte in der Luft“. Bereits hier schlug Lenz mit der Erfahrung totalitärer Herrschaft eines seiner wichtigsten Themen an und bekannte seine Solidarität mit den Macht- und Sprachlosen. Seine Kriegserfahrungen, die Erinnerungen an eine Jugend in einer Diktatur, ließen ihn auch in seinen späteren Romanen sozialkritische Perspektiven entwickeln, die immer wieder von existenziellen, auch pessimistischen Motiven gebrochen wurden. Lenz widmete sich beharrlich der deutschen Vergangenheit.
Seit 1951 führte er eine Existenz als freier Schriftsteller. Das bedeutete für ihn, mehrere Stunden am Vormittag und Nachmittag diszipliniert zu schreiben – das war mehr als nur ein preußisches Arbeitsethos, sondern ein Bekenntnis zu seinem Künstlerdasein, das eben auch ein Beruf war.
„Man schreibt eigentlich nur von sich selbst“ hat Siegfried Lenz einmal gesagt. Und so konnten wir durch Lenz’ Werke einen Blick auf den klugen, leisen und humorvollen Schriftsteller erhaschen und erkennen, dass Siegfried Lenz ein nachdenklicher, bescheidener, gerechtigkeitsliebender Mensch war. Ein Mann, dem Geschichten oft dazu dienten, Geschichte lebendig werden zu lassen. In seinen berühmten Romanen „So zärtlich war Suleyken“ (1955) und „Heimatmuseum“ (1978) ließ Siegfried Lenz seine Jugend in Masuren wieder aufleben, er zeigte sich dabei auch als Meister der humoresken Kleinform.
Lenz bekannte sich stets zu seiner Herkunft
Ostpreußen blieb stets ein Bezugspunkt für ihn: Die Ostpolitik Willy Brandts unterstützte Lenz energisch. Auf Einladung des damaligen Bundeskanzlers reiste er 1970 zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau.
Lenz bekannte sich stets zu seiner Herkunft, sagte aber auch: „Heimat bedeutet mir nicht so viel, als dass ich um jeden Preis zurückgehen möchte.“
Er fühlte sich durch und durch wohl in seiner Wahlheimat Hamburg, deren Ehrenbürger er seit 2002 war. 57 Jahre war er mit seiner Ehefrau Liselotte verheiratet, sie starb 2006. Die Malerin war ihm nicht nur erste Kritikerin gewesen, sondern tippte auch seine Manuskripte ab. 2010 heiratete Lenz seine langjährige Hamburger Nachbarin Ulla Reimer. Das Ehepaar verbrachte die Zeit abwechselnd in Hamburg und auf der dänischen Ostseeinsel Fünen.
Wer anfing, Lenz zu lesen, konnte sich schnell von dessen Geschichten fesseln lassen, von seinen zweifelnden, aufrechten Helden, den glasklaren Beobachtungen, der ökonomischen Erzählstruktur und der konzentrierten Handlung, die Gefühle weitgehend ausspart. Lenz war kein Schmeichler, kein Beschöniger, kein Fantast. Ihn beschäftigten einfache Menschen. Über sie erzählte er einfache Geschichten. Wer ihm eine Neigung zum Betulichen unterstellte, einen Rückzug in vergangene Welten, der hatte die Kraft nicht erfasst, die in ungezuckerten, direkten Sätzen liegt. Lenz’ Erzählungen und Romane sind wie japanische Möbel. Sie sind schlicht und schön und beinahe perfekt.
Siegfried Lenz’ Prosa lehnte sich an die Tradition der deutschen Novelle an, an die englische Kurzgeschichte, die russische Erzählung. Er erzählte von Verfolgung, Freundschaft und Verrat.
Seine Helden waren oft norddeutsche Kleinbürger, „normale Leute“, Menschen mit Moral, die gegen Niederlagen ankämpfen, meist wortkarg, zurückhaltend, bodenständig, spröde. Fast immer sind es Männer, einfache Fischer, Taucher, Sportler, Bauern, Kapitäne.
Seine Lieblingsfigur ist der auf sich selbst angewiesene Außenseiter
Menschen, die in der Natur leben. Seine Lieblingsfigur ist der auf sich selbst angewiesene Außenseiter. Die Konflikte, die die Männer bei Lenz ausfechten, scheinen ewig gültig. Da geht es um Auseinandersetzungen von Vater und Sohn, Lehrer und Schüler, Mensch und Natur. Kitsch, Gefühligkeit, opernhafte Dramatik kommen in Lenz’ Werk nicht vor. Fast könnte man meinen, Lenz sei wie Hemingway, nur auf Deutsch.
„Ich habe über meine Nachbarn geschrieben, habe versucht, ihre Eigenarten zu zeigen“, erklärte Lenz gern.
Eine seiner ersten großen literarischen Figuren war ein Taucher im Hamburger Hafen. Er ist der „Mann im Strom“. Diesen Roman schrieb Siegfried Lenz 1957 – er wurde zwei Mal verfilmt. Er lebt von dem Kontrast zwischen Alt und Jung, Ehrlichkeit und krimineller Energie und der Symbolik, bei der ein Schiffswrack ebenso ausgeweidet und unbrauchbar übrig bleibt wie der alte Mann, der Titelheld.
Lenz berührte ewig gültige, archaische Themen. Er traf realistische Details ebenso genau wie Atmosphäre und Stimmungen. Er zeichnete seine Figuren plastisch, sie „lebten“. Für einen Schriftsteller gibt es nichts, was größere Bedeutung hätte.
Lenz thematisierte die Vereinsamung des modernen Menschen und die Machtlosigkeit des Einzelnen. Sein berühmtester Roman „Deutschstunde“, der sich 2,5 Millionen Mal verkaufte, spielt in einer „Besserungsanstalt“ für kriminelle Jugendliche. Dort soll der Bilderdieb Siggi Jepsen einen Aufsatz über die „Freuden der Pflicht“ schreiben. Siggi denkt über seine Rolle als Täter und Opfer nach.
Lenz klagte seine Personen nie an, ob er sie handeln oder erzählen ließ
Lenz lieferte in diesem Roman, der viele Jahre zur Grundausstattung des Schulunterrichts gehörte, ein Plädoyer für Gewissen, Eigenverantwortung und die kritische Hinterfragung von Autoritäten. Er verdeutlichte, dass ein Verständnis der Gegenwart erst durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich ist. Ob Lenz seine Personen erzählen oder handeln ließ, nie klagte er sie an.
Aber er verteidigte oder verurteilte sie auch nicht. Dem Schriftsteller Siegfried Lenz ging es immer nur darum, die Menschen zu verstehen. Vielleicht, weil er ein Menschenfreund war. Anders als die beiden anderen deutschen Großschriftsteller, Günter Grass und Martin Walser, die zeitweilig auch den Krawall des Literaturbetriebes brauchten, die gern deutlich und deftig schildern, was Menschen miteinander verhandeln, blieb Lenz ein Schriftsteller der Andeutung, der Stille, der leisen Töne.
Zwischen 1948 und 2010 veröffentlichte Siegfried Lenz knapp 180 Erzählungen, 15 Romane und sieben Theaterstücke. Zu seinen bedeutenden Werken zählen auch „Das Feuerschiff“ (1960) „Das Vorbild“ (1981) und „Arnes Nachlass“ (1999). Zuletzt erschien bei seinem Hausverlag Hoffmann und Campe ein Buch über seine Freundschaft mit Altkanzler Helmut Schmidt. Am 8. Oktober kommt Lenz’ Kurzgeschichte „Leute von Hamburg“ mit Illustrationen und einem Vorwort von Schmidt in den Handel. Seinen Nachlass regelte Hamburgs prominentester Schriftsteller schon vor einigen Monaten mit der Gründung der Siegfried Lenz Stiftung; sie verleiht künftig alle zwei Jahre den Siegfried Lenz Preis.
Der erste Preisträger, der am 14. November in Hamburg ausgezeichnet wird, ist Amos Oz. Es ist unendlich schade, dass Lenz dies nicht mehr erleben kann. Zuletzt lebte er, der seit Jahren gesundheitlich angeschlagen und auf den Rollstuhl angewiesen war, in einer Hamburger Senioren-Residenz an der Elbchaussee mit freiem Blick auf den Fluss. Im September 2013 besuchte Lenz noch das Hamburger Filmfest und sah sich die Verfilmung seiner Kurzgeschichte „Die Flut ist pünktlich“ an.
Er wird fehlen, was sonst.