Ulrich Waller realisiert in der Toskana ein Stück über ein Kriegsverbrechen deutscher Soldaten. Auch in Italien wächst das Interesse daran, dieses Kapitel der Geschichte endlich aufzuarbeiten.

Hamburg. Anfang Juli wird in dem mittelalterlichen Dorf San Gusmé in der Toskana Geschichte zum Leben erweckt. „Albicocche rosse“ (Rote Aprikosen) hat Ulrich Waller, künstlerischer Leiter am St.Pauli Theater, das Theaterstück genannt, in dem es um ein vor 70 Jahren begangenes Kriegsverbrechen deutscher Soldaten geht, das lange verschwiegen wurde. Die Proben haben begonnen, Premiere ist am 4. Juli. Es spielen Schauspieler aus Italien und Deutschland, unter ihnen Peter Jordan und Peter Franke. Der NDR dreht über das Projekt einen Dokumentarfilm, ein Symposium soll vorab den historischen Rahmen deutlich machen.

Waller kennt San Gusmé, 20 Kilometer östlich von Siena gelegen, schon lange, 1985 hat er zum ersten Mal dort in der Gegend Urlaub gemacht. Den Dorffriedhof hat er immer wieder besucht – seit 1998 seine erste Frau Elke Lang dort ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Dort fiel ihm ein Mahnmal, ein verwitterter kleiner Obelisk, auf dem Grab von neun Menschen auf, die am 4.Juli 1944 ermordet worden waren. „Opfer des Nazi-Faschismus“ steht da. Acht Frauen und Kinder und ein Mann, zwischen 53 Jahren und einem Jahr alt. Was war die Geschichte dazu?

Als Waller sich im Dorf umhört, erzählt ihm jeder etwas anderes. Nimmt man alle Fakten zusammen, lässt sich etwa dies rekonstruieren: Im Sommer 1944 zogen sich die deutschen Soldaten in Italien durch die Toskana nach Norden zurück. Von Süden drangen alliierte Soldaten vor. Aus Sicht der Deutschen waren die Italiener damals Verräter – sie hatten im Herbst 1943 ihren Diktator Mussolini abgesetzt, den Pakt mit Hitler aufgekündigt. Sie waren auf die Seite der Alliierten gewechselt und hatten Deutschland am 10. Oktober 1943 den Krieg erklärt. Etwa 600.000 italienische Soldaten werden daraufhin interniert und zur Zwangsarbeit verschleppt, mehr als 40.000 von ihnen überleben nicht.

In der Folge attackieren Partisanen immer wieder deutsche Truppen, was die mit brutalen Racheaktionen vergelten. Denen fallen mehr als 10.000 (insgesamt gab es fast 40.000 zivile Opfer in Italien) Zivilisten zum Opfer. Allein in der Toskana sind 80 Tatorte mit 3778 Opfern bekannt. Auch die neun Menschen, die in San Gusmé begraben liegen, sind Opfer einer solchen „Sühnemaßnahme“. Unter Aprikosenbäumen (daher der Titel des Theaterstücks) hatten Partisanen eine Schießerei mit den abziehenden Deutschen begonnen. Die rächen sich blutig: Auf den nahen Gehöften Palazzaccio und Pancole greifen sie am Morgen des 4. Juli 1944 zufällig anwesende Zivilisten wahllos auf und erschießen sie. Ein Mord in den letzten Stunden des Krieges. Am Abend desselben Tages hatten Alliierte die Orte befreit. Es war eines der vielen Kriegsverbrechen, hier begangen von Mitgliedern der Fallschirmjäger-Panzerdivision Hermann Göring.

Der Zwischenfall steht heute nicht im Fokus von Romanen oder erlangt mediale Aufmerksamkeit durch den Besuch eines Bundespräsidenten so wie Sant’ Anna di Stazzema, wo 560 Italiener erschossen wurden. Feige seien die Partisanen gewesen, sie hätten die Rache der Deutschen herausgefordert, raunen manche in San Gusmé. Die Schuld liegt bei den Deutschen, steht für andere felsenfest. Noch leben letzte Augenzeugen, noch können sie erzählen, noch gibt es eine Chance, dass nicht völlig vergessen wird.

Gesprochen wurde nach dem Krieg über das Massaker nur selten, am liebsten gar nicht. Die Akten über solche Taten verschwanden sämtlich im so genannten „Schrank der Schande“ bei der Militärstaatsanwaltschaft in Rom, für viele Jahrzehnte, die Täter wurden nicht belangt. Deutsche und Italiener hatten beide größtes Interesse daran, sich nur noch als Urlauber, Gastgeber und künftige Nato-Partner gegenüberzutreten. Ausflüge in die dunkle Geschichte? Höchst unerwünscht.

Doch jetzt wächst auch in Italien das Interesse daran, dieses verdrängte Kapitel der Geschichte endlich aufzuarbeiten. Ulrich Waller sagt, er habe nur Zustimmung erfahren, als sein Theater- und Filmprojekt in Italien bekannt wurde. Finanziert wird es zu einem großen Teil vom Auswärtigen Amt, die Gemeinde Castelnuovo Berardenga hat Mittel aus einem deutsch-italienischem Fonds zur Aufarbeitung des Geschehens während der Besatzungszeit beantragt, die Körber-Stiftung finanziert das Symposium, das eine Begegnung von historisch interessierten italienischen und deutschen Jugendlichen beinhaltet. Geld kommt auch von der Hapag-Lloyd-, der Antje-Landshoff-Ellermann Stiftung und von Claus und Annegret Budelmann.

Regie führen bei dem Projekt der Italiener Matteo Marsan, Wallers Frau Dania Hohmann und Waller selbst. Premiere ist dann am 4. Juli, exakt 70 Jahre nach dem grausamen Geschehen. Gespielt wird open air auf der historischen Piazza Castelli in San Gusmé.

Warum er das angestoßen hat? „Mir geht es mit diesem Theaterprojekt um die einmalige Chance, sich als Nachfahren der Opfer und der Täter gemeinsam zu erinnern, kurz bevor die letzten Zeugen tot sind. Und um eine Verneigung im Respekt vor den Toten aus diesen dunklen Tagen der Feindschaft.“ Sagt Ulrich Waller.

Albichocche rosse, 4. bis 6. Juli, 21.30 Uhr, Piazza Castelli, San Gusmé. Karten und Informationen: +39/577/35 1 3 03