Der Anthropologe Martin Curi im Gespräch über seine Suche nach der brasilianischen Fußball-Seele, die Fußball-WM und den „Straßenköterkomplex“.

Rio de Janeiro. Natürlich ist Martin Curi zu spät. Nach zwölf Jahren in Rio de Janeiro wird aus einem akademischen Viertel eben mal schnell die brasilianische halbe Stunde. Doch das Warten auf den Anthropologen und Buchautor mehrerer Fußballbücher in einem Café in Rios Cinelândia soll sich lohnen. Denn kaum ein Gringo, ein Ausländer, kennt sich so gut mit dem brasilianischen Fußball aus wie Curi – und das als Fan von Bayern München...

Hamburger Abendblatt: Herr Curi, Sie haben mehrere Bücher über Brasiliens Fußball geschrieben, waren in allen WM-Städten und sind in den vergangenen zwei Jahren 35.000 Kilometer durch Brasilien gereist. Haben Sie dabei die Seele des brasilianischen Fußballs entdeckt?

Martin Curi: Ich habe auf all den Reisen tatsächlich eine ganze Menge entdeckt. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass Fußball das brasilianische Nationalritual ist, in dem die Menschen Geschichten über sich selbst erzählen. Und gerade aus anthropologischer Sicht ist es extrem interessant, welche Geschichten die Brasilianer dabei in den Vordergrund rücken.

Wie meinen Sie das?

Curi: Das fängt bereits beim Ligafußball an. Hier in Rio de Janeiro gibt es vier Vereine. Und jeder dieser Clubs steht für etwas anderes: Ganz platt gesagt repräsentiert Flamengo die Unterschicht, Vasco da Gama die portugiesische Gemeinde und die Kleinhändler, Botafogo das Bildungsbürgertum und Fluminense den Geldadel. Bei den Derbys spielt nicht A gegen B, sondern es ist immer auch ein Klassenkampf. Es ist nicht nur ein Spiel, sondern ein Aufeinandertreffen mit sozialer Bedeutung.

Und die Nationalmannschaft?

Curi: Besonders Weltmeisterschaften haben in Brasilien eine Bedeutung wie nirgendwo sonst auf der Welt. Es ist ein echter Nationalfeiermonat. Alle vier Jahre hält das ganze Land den Atem an. Man kann sich dem nicht entziehen. Die Universität wird geschlossen, die Schulen genauso. Und als Familie oder im Freundeskreis überlegt man lange vorher, wie und wo man welches Spiel schaut. Das ist vergleichbar mit Weihnachten bei uns, wo ja auch jeder vorab wissen will, wie Heiligabend gefeiert werden soll.

In Ihrem Buch „Brasilien – Land des Fußballs“ haben Sie versucht, die moderne Geschichte Brasiliens am Beispiel der Weltmeisterschaften zu erklären.

Curi: Jede WM steht für ein Thema der brasilianischen Gesellschaft. 1950 ging es um die Frage der Rassendemokratie, 1982 war es die Redemokratisierung, 1998 war es die Globalisierung, und auch jetzt wird wieder öffentlich diskutiert, welches Land die Brasilianer eigentlich wollen. Insofern ist es keine Überraschung, dass es die politischen Diskussionen im Vorfeld gab. Die Brasilianer diskutieren immer ihr eigenes Selbstverständnis vor einer WM.

Brasilien ist fünffacher Weltmeister, trotzdem schreiben Sie, dass das Land einen Minderwertigkeitskomplex habe, einen „Straßenköterkomplex“. Wie passt das zusammen?

Curi: Der Begriff „Straßenköterkomplex“ ist nicht von mir, sondern vom Schriftsteller Nelson Rodrigues. Es ist aber aus meiner Sicht eine sehr treffende Beobachtung. Denn obwohl Brasilien viele Triumphe hatte, wird doch vor allem über die drei große Niederlagen gesprochen: 1950, 1982 und 1998. So gibt es wenig Literatur über die fünf Weltmeistertitel, aber gleich ein Duzend gute Bücher über das brasilianische Trauma der Finalniederlage bei der Heim-WM 1950 gegen Uruguay.

Leiden die Brasilianer gerne?

Curi: Eine schwierige Frage. Brasilien ist auf jeden Fall ein sehr widersprüchliches Land, ein Land der Extreme. Fußball-Weltmeisterschaften sind hier wie die Telenovelas im Fernsehen: ein ewiges Auf und Ab der Gefühle. Entweder man triumphiert oder es gibt ein Debakel. Es gibt nur Schwarz oder Weiß. Und obwohl Brasilien eben nur fünfmal Weltmeister wurde und nicht 19 Mal, geht man trotzdem vor jedem Turnier erneut davon aus, dass man gewinnt. Eine andere Option besteht gar nicht. Ein WM-Titel gibt dem ganzen Land kurzfristig das Gefühl, mehr als nur ein Fußballturnier gewonnen zu haben. Plötzlich ist man ein Erste-Welt-Land. Gewinnt man aber nicht, sondern wird möglicherweise „nur“ Zweiter, dann ist man völlig am Boden.

Also hat Brasilien keinen Straßenköter-, sondern einen Bayern-München-Komplex?

Curi: Interessante These. Es mag tatsächlich Parallelen geben, aber es gibt auch große Unterschiede. Die Brasilianer brauchen einfach einen Schuldigen, wenn es mal nicht klappt. Barbosa war es 1950, Ronaldo 1998, Roberto Carlos zog sich 2006 im falschen Moment die Socken hoch und der glücklose Dunga musste 2010 als Sündenbock herhalten. Diese extreme Suche nach einem Schuldigen kenne ich so aus Deutschland nicht. Und auch wenn man den Bayern immer nachsagt, sie seien arrogant, was selbstverständlich nicht stimmt, dann ist das ohnehin kein Vergleich zu den Brasilianern.

Das müssen Sie jetzt aber erklären.

Curi: Nach gewonnenen Fußballspielen ist Brasilien für die Brasilianer das Zentrum der Welt. Der Patriotismus ist dann schon extrem, er kann mitunter sogar unangenehm werden. Nach dem Finale 2002, das Deutschland ja leider 0:2 gegen Brasilien verlor, war es für mich ein echter Spießrutenlauf.

Sie drücken den Brasilianern bei ihrer Heim-WM also nicht die Daumen?

Curi: Meine Frau oder meine Studenten werden es nicht gerne hören. Aber auf keinen Fall drücke ich Brasilien die Daumen. Alleine schon, weil ich diesen Neymar ganz fürchterlich finde.