Die WM in Brasilien wird ein grandioses Fußball-Spektakel, hoffen die einen. Es wird chaotisch werden, fürchten die anderen. Ein Stimmungsbericht aus einem Land, das nicht weiß, ob es lachen oder weinen soll.
Das Interesse war enorm, als „Felipão“, der Papa der Nation, am vergangenen Mittwoch zur Audienz bat. Die großen TV-Stationen Brasiliens übertrugen live. Im Kongresszentrum des Vivo Rio in Rio de Janeiros Stadtteil Flamengo brach zeitweise die Internetverbindung zusammen. Dort saßen 870 Journalisten, um von Brasiliens Nationaltrainer Luís Felipe Scolari endlich die Frage beantwortet zu bekommen, die scheinbar das ganze Land seit Monaten beschäftigt: Wer sind die Auserwählten, die bei der am 12. Juni beginnenden Fußball-Weltmeisterschaft für die Seleção dabei sind?
Dani Alves, Hulk und selbstverständlich Neymar. Nach und nach wurden die Namen der 23 Nationalspieler, die natürlich nichts anderes als den Titel holen sollen, bekannt gegeben. Draußen, auf dem Vorplatz des Vivo Rio, schien sich indes niemand für die Männer in kurzen Hosen zu interessieren. Ganz im Gegenteil. „Vergonha!“, Schande!, skandierten etwa 60 Protestler, alle Mitglieder der Militärpolizei, immer wieder. Abseits der Scheinwerfer demonstrierten sie vor der Halle für eine bessere Ausbildung und eine bessere Ausrüstung. „Wie sollen wir für Sicherheit im Land sorgen, wenn sich niemand um unsere Sicherheit sorgt?“, fragte einer der Demonstranten.
Auf den Tag genau einen Monat vor dem Start der WM scheint sich das Samba- und Fußballland Brasilien nicht sicher zu sein, ob es sich auf das Megaereignis freuen soll oder nicht. Laut einer Studie des Bundessenats kostet die WM 40 Milliarden Euro – und 80 Prozent dieser teuersten copa mundial aller Zeiten werden aus Steuergeldern bezahlt. Besonders die hohen Kosten für die Arenen werden immer wieder kritisiert. Allein das Endspielstadion Maracanã hat mit 423 Millionen Euro doppelt so viel gekostet wie erwartet. So ist es dann auch kein Wunder, dass laut aktuellen Umfragen nur noch 50 Prozent der Brasilianer für die WM im eigenen Land sind. Als Brasilien 2007 den Zuschlag von der Fifa erhielt, waren es noch knapp 80 Prozent.
Eunice Grötzinger, 60, kennt diese Zahlen und Statistiken. Und trotzdem ist sich die stellvertretende Dezernentin für Tourismus der Kleinstadt Guarujá, knapp 80 Kilometer südlich von São Paulo gelegen, sicher, dass es ein erfolgreiches Turnier wird. „Natürlich kann man die riesigen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd, nicht verstecken“, sagt Grötzinger, „aber ich erwarte dennoch eine WM der großen Leidenschaften.“
Die Brasilianerin, die viele Jahre in Düsseldorf und in München gelebt hat und deren Sohn Andre nun in Hamburg wohnt, weiß, dass im Ausland vor allem über Proteste, den schleppenden Stadion- und Flughafenausbau, Korruption und fehlende Sicherheit berichtet wird. Gerade erst am Sonnabend wurde bekannt gegeben, dass 30.000 Soldaten während der WM die Grenzen gegen Waffen- und Drogenschmuggel schützen sollen. Doch alles nur zu kritisieren ist ihr zu einfach: „Die Gleichung, statt X Fußballstadien könnte man Y Schulen und Krankenhäuser bauen, ist zu simpel. Richtig ist es jedoch zu hinterfragen, ob der Bau bestimmter Stadien für eine Nach-WM-Zeit sinnvoll war.“
Erst kürzlich hatte Präsidentin Dilma Rousseff bei einem Abendessen im Palácio Alvorada in der Hauptstadt Brasília mit 13 Chefredakteuren verschiedener Zeitungen noch mal bekräftigt, dass es nicht die Regierung war, die auf zwölf teure Stadien im ganzen Land bestanden hätte. Sondern die Fifa. Es dauerte nicht lange, ehe die Antwort in den brasilianischen Tageszeitungen folgte. Unwahr seien Rousseffs Aussagen gewesen. Ihr Parteifreund und Amtsvorgänger Lula da Silva, der auch die entlegensten Winkel Brasiliens bei der WM mit einbeziehen wollte, habe sich für neue Protzarenen in Manaus, Cuiabá, Brasília und Natal ausgesprochen. Dabei gebe es in diesen Städten nicht mal einen Erstligaclub.
Was Rousseff, Lula oder die Fifa zu sagen haben, ist für Carlos Miguel nicht wichtig. Er läuft jeden Morgen aus der Favela Catangalo hinunter zur Copacabana, um hier Trikots der Seleção an Touristen zu verkaufen. Den Glauben an die Politik hat der drahtige Mann schon lange verloren. Dass die Leute seit einem Jahr zum Demonstrieren auf die Straße gehen, findet er aber gut. „Die Politiker sind Banditen“, sagt er. Auf die WM freue er sich aber trotzdem. Wichtig sei nur, dass Nationalheld Neymar in Topform komme.
„Fußball ist für uns Brasilianer ein Lebenselixier“, erklärt 500 Kilometer weiter südlich Grötzinger. Sie hatte gehofft, die deutsche Nationalmannschaft in ihre Stadt Guarujú locken zu können. Sogar DFB-Manager Oliver Bierhoff war vor Ort, entschied sich dann aber für das abgelegene Campo Bahia im Nordosten Brasiliens. „Leider konnten wir der deutschen Nationalmannschaft nicht die Abgeschiedenheit bieten, die sie sich gewünscht hat“, sagt Grötzinger, die immerhin Bosniens Auswahl für ihren Strandort begeistern konnte.
Guarujú ist für die WM bereit – der Rest des Landes muss dies noch zeigen.