Der Ex-Nationalspieler Cacau spricht vor der WM über seine zwei Heimaten Deutschland und Brasilien und über Gründe, warum er die Demonstrationen nachvollziehen kann.

Natürlich reist Claudemir Jerônimo Barreto, besser bekannt als Cacau, auch in diesem Sommer wieder nach Mogi da Cruzes, in die Küstenstadt 40 Kilometer östlich von São Paulo. Hier ist nicht nur Brasiliens Superstar Neymar geboren, auch der deutsche Ex-Nationalspieler hat in Mogi da Cruzes das Fußballspielen erlernt. Kurz vor der WM traf er sich noch mit dem Abendblatt, um über Brasilien, Deutschland, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu sprechen.

Hamburger Abendblatt: Cacau, in Ihrer Biografie schreiben Sie, dass Sie zu 100 Prozent Brasilianer und zu 100 Prozent Deutscher sind. Zu wie viel Prozent glauben Sie an eine erfolgreiche WM?
Cacau: Zunächst muss ich eine Gegenfrage stellen: Was macht denn überhaupt eine erfolgreiche WM aus? Deutschland hat in der Organisation, aber auch beim Spaß und der Freude der Menschen die Messlatte 2006 jedenfalls sehr hochgelegt. Stadien, Infrastruktur und das ganze Drumherum waren perfekt – und die Stimmung ist nach dem Gruppenspiel der Deutschen gegen Polen gewissermaßen explodiert. Die Fans haben auf den Straßen gefeiert, als würde es kein Morgen geben. Das alles waren 100 Prozent. Das können die Brasilianer nicht übertreffen. Trotzdem wird auch Brasilien gerade in Sachen Gastfreundschaft neue Maßstäbe setzen. Denn die Freude der Menschen über den Fußball ist nirgendwo so groß wie in Brasilien.

Darf man sich als Brasilianer bei all den bekannten Problemen des Landes überhaupt uneingeschränkt über diese zehn Milliarden Euro teure WM freuen?
Cacau: Man kann und sollte das eine von dem anderen trennen. Selbstverständlich darf man sich über dieses Fest freuen, und genauso selbstverständlich finde ich, dass die Menschen auf die Straße gehen und ihrem Ärger Luft machen. Die Brasilianer werden seit Jahren immer frustrierter und wollen das auch der Welt zeigen. Ich hoffe nur, und es wird enorm wichtig sein, dass alle Demonstrationen friedlich bleiben.

Brasilianer gelten ja eigentlich als unpolitisch. Waren Sie ein wenig von Ihren Landsleuten überrascht, als sie vor dem Confed Cup erstmals auf die Straße zum Protestieren gegangen sind?
Cacau: Es war längst überfällig, dass man endlich mal anfängt, für das eigene Recht zu kämpfen. Dabei distanziere ich mich natürlich ganz klar von einzelnen Gewaltverbrechen, die es dabei leider auch gegeben hat. Aber der überwiegende Teil der Proteste verlief friedlich, und daran sollte sich auch bei der WM 2014 nichts ändern.

Wogegen protestieren die Menschen in Brasilien?
Cacau: Diese Frage kann man nicht mit ein paar Sätzen beantworten. Aber im Großen und Ganzen geht es darum, dass Brasilien immer mehr als kommendes Schwellenland mit einer boomenden Wirtschaft wahrgenommen wird. Das Problem ist nur, dass von diesem Boom kaum etwas bei den normalen Leuten ankommt. Ich bin mindestens einmal, meistens zweimal im Jahr im Land und konnte in den vergangenen Jahren die Entwicklung ganz gut verfolgen und nachvollziehen. Es kann doch zum Beispiel nicht sein, dass Tomaten fast so viel wie Rindfleisch kosten, dass die Inflation bei drei bis fünf Prozent liegt, die Preise aber sehr viel schneller steigen. Als auch die Buspreise in São Paulo überproportional erhöht werden sollten, ist buchstäblich das Fass endgültig übergelaufen. Die Menschen hatten genug von diesen Ungerechtigkeiten – und ich finde es richtig, dass sie sich wehren. Endlich setzt sich ein Bewusstsein in der brasilianischen Gesellschaft durch, dass man gemeinsam etwas verändern kann.

Auch Fußballer lassen sich normalerweise selten zu politischen Aussagen hinreißen. Mittlerweile haben sich aber die meisten brasilianischen Nationalspieler bewusst hinter die Proteste gestellt.
Cacau: Das ist ein wichtiges Zeichen für das Land. Fußballer verdienen viel Geld, kommen aber meistens auch aus ganz normalen Verhältnissen. In Brasilien weiß eigentlich jeder, dass sich Grundlegendes ändern muss.

Nicht jeder. Brasiliens Weltmeister Ronaldo hat zu den Protesten gesagt, dass Fußballspiele in Stadien und nicht in Krankenhäusern stattfinden.
Cacau: Dieser Satz war sehr unglücklich von ihm. Er hat das schon ein Jahr vor dem Beginn der Proteste gesagt. Ich hoffe sehr, dass auch Ronaldo mittlerweile weiß, dass man endlich mehr Gelder für Krankenhäuser, Flughäfen und Infrastrukturmaßnahmen braucht – und dass die Stadien für die WM wohl einfach zu teuer waren. Die Fifa hat da großen Druck gemacht – und Brasilien hat sich diesem Druck gebeugt.

Sie leben seit 14 Jahren in Deutschland. Was schätzen Sie als gebürtiger Brasilianer in Deutschland am meisten?
Cacau: Es sind unter anderem die einfachen Dinge, die man in Deutschland schätzen sollte. Wenn ich einen Termin in Frankfurt habe, dann weiß ich, dass ich mit dem Zug eine Stunde und 15 Minuten dorthin brauche. Ich kann diese Zeit einplanen und mich auch darauf verlassen, dass ich sie fast immer einhalten kann. Wenn man in Brasilien von A nach B möchte, dann kann man eben nicht verlässlich mit einer Zeit planen. Das Gleiche gilt für die Öffnungszeiten von Banken oder der Post. In Deutschland ist einfach alles sehr zuverlässig.

Gibt es auch etwas, dass sich Deutschland von Brasilien abgucken kann?
Cacau: Brasilianer haben eine Unbekümmertheit und eine natürlich Freude, die es in Europa so nicht gibt. Trotz aller Probleme wird das Leben genossen, eine andere Chance gibt es auch nicht.

Warum war es Ihnen trotzdem so wichtig, sich einbürgern zu lassen?
Cacau: Ich hatte eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland, die ich allerdings verlieren würde, wenn ich mit meiner Familie länger als sechs Monate zurück nach Brasilien gehen würde. Sollten wir das irgendwann mal machen und danach nach Deutschland zurückkehren, was mit Sicherheit der Fall wäre, würde es Probleme geben. Das wollte ich nicht. Denn ich habe ganz klar das Gefühl, dass Korb bei Stuttgart nun die Heimat meiner Familie ist. Deswegen hat meine Frau ebenso wie ich den Einbürgerungstest absolviert.

War der Test schwer?
Cacau: Wenn man sich ein wenig vorbereitet, dann ist der Test leicht. Insgesamt 300 Allgemeinwissensfragen muss man lernen. Davon wurden dann 33 Fragen im Test gestellt. Zum Beispiel wird gefragt, wer den Bundeskanzler wählt. Früher dachte ich immer, dass das deutsche Volk die richtige Antwort wäre. Jetzt weiß ich, dass es der Bundestag ist. Meine Frau und ich haben beide keinen einzigen Fehler gemacht.

Gehen Sie in Deutschland wählen?
Cacau: Selbstverständlich. Nur beim letzten Mal habe ich vergessen, rechtzeitig Briefwahl zu beantragen. Dann hatten wir am Wahlsonntag ein Spiel, und ich habe es leider nicht mehr geschafft, meine Stimme abzugeben.

Wenn Sie in Brasilien wählen gehen würden, hätten Sie 2011 Dilma Rousseff als Präsidentin gewählt?
Cacau: Eigentlich gibt es ja ein Wahlgeheimnis (lacht). Aber im Ernst: Nein, ich hätte sie nicht gewählt.

Der frühere Superstar Romário ist in die Politik gegangen, um etwas zu ändern. Könnten Sie sich einen ähnlichen Schritt vorstellen?
Cacau: Nein. Ich habe andere Ziele, und das hängt nicht damit zusammen, dass das Politikerleben sicherlich anstrengender ist als das Fußballerleben. Zu Romário: Ich bin positiv überrascht von ihm und seiner Arbeit. Er macht vieles unerwartet gut – nur leider polarisiert er zu gerne. Manchmal steht er sich zu sehr selbst im Weg.

Sie sind 33 Jahre jung, haben aber schon Ihre Biografie unter dem Titel „Immer den Blick nach oben!“ geschrieben. Warum eigentlich?
Cacau: Ich wollte meine Geschichte erzählen und auch über meinen christlichen Glauben berichten, der für mich ganz wichtig ist. Mein Karriereweg war ja ein etwas anderer – und vielleicht hilft meine Geschichte ja dem einen oder anderen, der gefährdet ist, vom rechten Weg abzukommen, oder der viel kämpfen muss im Alltag. Das Buch ist auch für meine Kinder geschrieben, die wissen sollen, dass im Leben nicht immer alles so selbstverständlich ist, wie es ihnen gerade erscheinen mag.

Sie haben sehr eindrucksvoll beschrieben, wie Sie in Brasilien als Jugendspieler und auch als Jungprofi aussortiert wurden und schließlich über den Umweg beim SV Türk Gücü in München doch noch Fußballprofi und sogar Nationalspieler wurden. Haben Sie sich mal gefragt, ob Sie es auch in Brasilien zum Fußballprofi gebracht hätten?
Cacau: Ich hatte jedenfalls nie einen Plan B. Das war riskant und auch ein wenig naiv von mir. Nachwuchsfußballern heute würde ich dringend raten, sich Gedanken über einen Alternativplan zu machen. Man darf nicht vergessen: Ich bin wahrscheinlich einer von 30.000, die das Glück hatten, es doch zum Profi geschafft zu haben. Viele Freunde von mir von früher haben es auch probiert, haben es nicht geschafft und wissen nicht, was sie mit dem Rest ihres Lebens machen sollen.

Glauben Sie, dass mit all den Nachwuchsleistungszentren und der Professionalisierung eine Karriere wie Ihre heute noch möglich wäre?
Cacau: Wahrscheinlich nicht. Schon damals war es außergewöhnlich, heute ist es nahezu ausgeschlossen.

Bei der letzten WM haben Sie noch für Deutschland auf dem Platz gestanden, in Brasilien sind Sie nur als TV-Experte und Kolumnist für deutsche Zeitungen dabei. Sind Sie ein wenig wehmütig?
Cacau: Nicht mehr. Natürlich hätte ich gern bei dieser WM nochmals das deutsche Nationaltrikot getragen, aber durch zwei schwere Verletzungen habe ich den Anschluss an das DFB-Team verpasst. Umso mehr freut es mich, dass ich am Ende dieser Saison nochmals beim VfB Stuttgart regelmäßig gespielt habe und den Verein nach über 300 Bundesliga-Spielen mit dem Klassenerhalt verlassen konnte. Es waren elf wunderbare Jahre. Nun will ich die WM in Brasilien genießen. Ein wichtiger Termin zuvor war für mich der Pfingstmontag, als mir beim Besuch einer Delegation in São Paulo vom DFB und der Nationalmannschaft eine Spende für mein Sozialprojekt in meinem Geburtsort Mogi da Cruzes überreicht wurde. Ich bin als Christ dankbar für mein Leben und möchte etwas von dem Glück, das ich erleben durfte, weitergeben.