Zum Auftakt des Hamburger Musikfestes spielten die NDR-Sinfoniker unter Thomas Hengelbrock und das Amsterdamer Concertgebouworkest mit Andris Nelsons.

Das Beste, was dem NDR-Sinfonieorchester und seinem Chefdirigenten Thomas Hengelbrock passieren konnte, war die Platzierung am ersten Abend des „1. Internationalen Musikfests“ unter Elbphilharmonie-Generalintendant Christoph Lieben-Seutter. Der Saal war ausverkauft, es roch, hanseatisch durchinszeniert und mit Erfolgsversprechens-Grußworten der Kultursenatorin, nach Event mit Ansage: „Der Musikstadt Hamburg steht eine großartige Zukunft bevor“, prophezeite Barbara Kisseler, als sei das mehr als beschlossene Sache.

Jede Menge Kultur- und sonstige Prominenz begrüßte sich im Parkett und später im Brahms-Foyer. Die sich viel zu rar machende Wohlklang-Eremitin Maria Joao Pires glänzte sanft als fein austarierende Solistin für das 2. Beethoven-Klavierkonzert, und vor allem gab es eine für diesen Anlass raffiniert gewählte Hamburgensie, die „Titan“-Zwischenfassung von 1893 von Mahlers 1. Sinfonie, als Heimspiel-Höhepunkt mit Lokalkolorit, pünktlich zu dieser honorigen Wiederbelebung auf CD erschienen.

Aber es hätte für das zukünftige Elbphilharmonie-Residenzorchester auch nichts Schlimmeres geben können als dieses Timing. Denn wer einen Abend vor dem unfassbar guten Amsterdamer Concertgebouworkest und dem begnadeten Musik-Maler Andris Nelsons ins Rampenlicht geht, hat schon verloren. Kann gar nicht gewinnen, kann einfach nicht besser sein.

Wo anfangen also mit dem Lob für den Weltstar Nelsons, ohne Hengelbrocks demonstrativ gefeiertes Vor-Spiel am Vorabend allzu schwach und regionalstolz gewollt aussehen zu lassen? Vielleicht bei einer sehr kleinen, aber enorm aufschlussreichen Geste, zu Beginn von Strauss’ „Till Eulenspiegel“. Bevor dieser Es-war-einmal-Klangzauber begann, flatterten kurz die Finger von Nelsons Linker; eine Harry-Potter-Geste ohne Zauberstab war das, die dem tiefenentspannten und hochkonzentrierten Tutti signalisierte: Dann wollen wir doch mal zeigen, was wir so alles können, wenn wir Lust dazu haben.

Strauss liegt Nelsons sowieso; diese Musik, die auch ohne Worte schon sehr nach den späteren Operndramen klingt, ist wie Wachs in seinen Händen, er kann sie formen und dehnen und findet Details, die man nie geahnt hätte. Der Begriff Klangkörper passt bestens auf die Ausführenden, denn hier wurde gemeinsam und intuitiv geatmet, das Blut pulste. Normalerweise ist der Tondichtungs-Racker Till, der am Ende seiner Schelme dran glauben muss, eher ein Pflichtstück zum soliden Wegspielen, weil er so verbindlich plakativ ist. Bei diesem Wiederhören jedoch war es funkelnde Kür, reinstes Vergnügen.

Vor diesem uneitlen Schaulaufen hatte Nelsons mit „Macbeth“ begonnen, einem weiteren Strauss-Gedicht aus Noten, das dramatisch glühte und bei dem unüberhörbar war, wie viel Dynamik, Substanz und Tiefe diesem Orchester verspielt leicht zur Verfügung steht. Und als ob diese Demonstration der Überlegenheit mit spätromantischer Pracht und Intensität noch nicht genug gewesen wäre, räumten der Lette Nelsons und seine fliegenden Holländer nach der Pause auch noch mit der Zweiten von Brahms ab. Ausgerechnet Brahms, ausgerechnet in dessen Geburtsstadt, ausgerechnet das Kernrepertoire des NDR-Orchesters seit Schmidt-Isserstedt. Auch dabei ließen die Gäste keinen Zweifel an ihrer Klasse aufkommen.

Nelsons’ Brahms war frisch und gespannt, hatte einen bezwingend klaren Aufbau und entwickelte sich mit einer Leichtigkeit, die keinen Moment langweilig oder konventionell wirkte. Und Nelsons’ Körpersprache war entsprechend: Mal bog er sich fast bis vor die Nasenspitze des Konzertmeisters vom Pult, dann wieder griff er beherzt ins Leere, um es mit Energie auszufüllen. Das Hornsolo im zweiten Satz – um nur eines von vielen Bravour-Beispielen zu nennen – hatte so gar nichts Glücksspiraliges und Riskantes, hier waren alle, ein Orchester voller Solisten, ganz bei sich. So geht Weltklasse.

Von diesem Niveau waren die Hamburger Kollegen am Vorabend durchaus entfernt; sie spielten in ihren guten Konzert-Phasen in einer anderen Liga, in den nicht ganz so guten fast schon in einer anderen Disziplin. Erstaunlicherweise war es aber nicht die Mahler-Premiere, sondern der vermeintlich gängigere und damit handhabbarere Beethoven, der den stärkeren musikalischen Eindruck hinterließ. Pires vermied es konsequent, eine hierarchische Oben-Unten-Trennung zwischen ihrem Solo-Part und der Begleitung aufkommen zu lassen. Sie blieb basisdemokratisch dezent und bodenständig und dennoch stark, wo andere gern auftrumpfen. Das war kein Erlebnis und noch weniger ein Abenteuer, sondern schlicht und ergreifend eine Freude, weil sich die Virtuosin nicht in den Vordergrund arbeitete.

Die „Hamburger Fassung“ von Mahlers Erster ist ein Blick in die Komponistenwerkstatt. Noch ist der „Blumine“-Satz enthalten, dessen volksliedhaftes Trompetensolo biedermeierliches Idyll anklingen lässt. Noch sind hier und da einige Unschärfen in der Partitur, die vom bekannten, viersätzigen Endzustand abweichen. So aufgeführt wurde das Unikat hier nur einmal, während der Hamburger Opern-Kapellmeisterzeit Mahlers. Vielleicht war es das von dieser Vorgeschichte und dem akuten Erwartungsdruck ausgelöste Lampenfieber, das Hengelbrock generell und einige der NDR-Bläser-Solisten im ersten Satz stellenweise aus der Ruhe brachte. Erstaunlich, da man gemeinsam schon ganz anderes geleistet hatte. So blieb ein fragmentarischer Eindruck und kein überwältigender, obwohl sich Orchester und Chef bis zum Schlusssatz wieder fingen und fanden. Das Gute an dieser Premiere mit Problemen: So ist noch Luft nach oben für die Zukunft.