In der Text-Collage „Front“, die am Hamburger Thalia Theater Premiere hatte, kombiniert Luk Perceval den Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ mit Zeitdokumenten aus dem Ersten Weltkrieg.
Wie inszeniert man Krieg auf der Bühne? Ganz sicher nicht, indem man Horden von Männern unter Gewehrknallen aufeinander zustürzen lässt. Regisseur Luk Perceval wählt die leisere Variante, indem er auf der Bühne vom Grauen erzählen lässt, von Hunger, Heimweh, Angst, Aggression, Familie und Furcht.
„Front“, eine Polyphonie, eine Performance, die am Thalia Premiere hatte, mischt Remarques Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ mit Zeitdokumenten aus dem Ersten Weltkrieg sowie aus Henri Barbusses „Le Feu", der aus der Sicht eines französischen Soldaten erzählt. Dazu wabert, kratzt oder kreischt ein Konzert auf Stahlplatten, die Ferdinand Försch mal als Kanonengewitter, mal als schleichenden Gasangriff erklingen lässt.
Vier Sprachen werden gesprochen, deutsch, französisch, flämisch und englisch, von Menschen, die der Krieg zu Feinden macht. Doch diese Frontschweine, diese einfachen Soldaten, die Mutter, die Krankenschwester, sie alle erzählen das Gleiche von den Schrecken des Krieges, sie sind Opfer von Granaten und Gas, sie leiden unter Verwundung, Tod, Zerstörung, auch psychischer Art. Krieg heißt für sie „zermatschte Beine, Armstümpfe, verlorene Augen, weggeschossene Gesichter“, Brüder, Väter, Söhne, Freunde, die nie wiederkehren. Krieg ist für jeden Menschen eine Katastrophe.
„,Front‘ ist ein Requiem für den unbekannten Soldaten, kein Theaterstück im klassischen Sinne“, sagt Perceval. „Mit den Worten und Geschichten, die die Zuschauer hören, können sie sich identifizieren.“ Und genau so ist es. Der Abend ist ein Erlebnis aus Stimmen und Klängen, kein Handlungsablauf definiert ihn. Und trotzdem fühlt man sich mitgenommen ins Kriegsgeschehen, ins allgemein menschliche Leiden.
Krieg ist in Remarques Roman ein vom Einzelnen nicht zu beeinflussendes Ereignis, in dem er seine Kultur, seine Werte, seine Lebensperspektive und schließlich seine physische Existenz verliert. „Im Westen nichts Neues“ beschreibt den Krieg mit erschütternder, plastischer Brutalität und war jahrzehntelang das nach der Bibel weltweit meist gelesene Buch. Es wurde in 50 Sprachen übersetzt, die Verfilmung wurde schon 1930 von den Nazis verboten. Remarques Text, vom Zerstampfen, Verbrennen, Würgen, Massengrab und Tod wird überall auf der Welt verstanden, auch heute noch, 100 Jahre nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Es war ein Menetekel auf das, was Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ genannt hat.
Perceval und sein multinationales Ensemble – der Abend ist eine Koproduktion mit dem NTGent – realisieren Stimmung und Atmosphäre von Einsamkeit und Verzweiflung, Bürokratie und Ausgeliefertsein. Sie zeigen den Menschen als ein von mechanischen Gewalten getriebenes Etwas. Nüchtern und klar begegnet die Inszenierung den bewegenden Zeitzeugnissen. Merkwürdig, wie so ein düsterer, unheimlicher Abend zur Erhellung beitragen kann.
Episodenhaft, minimalistisch und ergreifend ist auch die Bühnenform, in der unter anderen Burghart Klaußner und Bernd Grawert vom täglichen Elend der Soldaten erzählen, von Kakerlaken, Krankheit, Solidarität, Stumpfsinn, vom Senfgas, das 50 Mal giftiger ist als Chlorgas. Die elf Schauspieler und Schauspielerinnen sitzen vor Mikros auf Bierkästen. Sie werden von unten beleuchtet, erscheinen unheimlich, wie Lemuren aus einer vergangenen Welt. Im Hintergrund auf einer Leinwand ziehen Wolken vorbei, oder ist es Rauch, Gas? Später werden hier Gesichter, auch verstümmelte Gesichter von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt, Philip Bußmann hat daraus eine Videoinstallation gemacht.
Romanpassagen, Feldpostbriefe, Episoden werden vorgetragen. Die Soldaten erzählen von Ratten, von 1000 Kilometer langen Gräben, von Hunger und Heimweh, vom Gestank und vom Tod von Kameraden. Totenstille – auch im Zuschauerraum. Försch bearbeitet jetzt die Stahlplatten der 13 Meter hohen Wand am Bühnenende (Bühne: Annette Kurz) zu Sägegekreisch, zu sich steigerndem Schlachtendonner, zur Geräuschkulisse. Die Männer beginnen, sich wie Kreisel zu drehen, schneller, immer schneller entlang der Trennlinie aus Lampen am Bühnenboden. Man hört von Blut, Verwundung, Todeskampf. Dann herrscht Stille. Erschöpfung. „Und plötzlich merkt man, dass es vorbei ist“, sagt einer. „Lautlos wartet man auf den nächsten Angriff“.
Wenn das Chlorgas kommt, werden die Stimmen elektronisch verzerrt. Die Soldaten plagen sich mit Fragen: Wie holt man den verwundeten Kameraden aus dem Schlachtfeld? Wie sagt man Einem, der ein Bein verloren hat, dass er verbluten wird? Woher bekommt man Brot? Und immer wieder: Warum?
Wer hier wen warum angegriffen hat, blendet die Inszenierung aus. Schließlich ist es keine Geschichtsstunde sondern Theater. Am Ende halten Bernd Grawert und Steven van Watermeulen parallele Monologe auf deutsch und auf flämisch. Man versteht nichts. Wie sollte man auch? Es ist Krieg.