Luk Percevals Erster-Weltkrieg-Projekt ist im Thalia zur aufwühlenden Uraufführung gekommen. Das Publikum reagierte mit starkem Beifall auf die zweistündige Koproduktion mit dem belgischen NTGent.

Hamburg. Im Hintergrund der nackten Bühne hängt eine riesige, graue, fein ziselierte, aber zerborstene Metallplatte. Eine Konstruktion, die entstanden ist nach der Kassettendecke in einem Speisesaal des 1912 gesunkenen Traumdampfers „Titanic“ – Symbol der „Urkatastrophe“ Europas im 20. Jahrhundert (Bühne: Annette Kurz). Vorn am Rand sitzen in Reih und Glied junge und ältere Männer in altmodischen schwarzen Anzügen vor Notenständern ohne Noten. Sie wirken wie erstarrt – wie Ratten in einer Falle. Und warten gebannt auf das, was da kommen mag.

So beginnt am Hamburger Thalia Thalia Luk Percevals aufwühlendes viersprachiges Projekt „Front“ über den Ersten Weltkrieg 1914 bis 1918. Ein zweistündiger, unter Grabenkämpfen im eigentlich neutralen Belgien verorteter Abend, der den Zuschauern lange nachhängen dürfte. Bei der Uraufführung am Sonnabend reagierte das Publikum mit Betroffenheit und starkem Beifall auf die „Polyphonie nach „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, „Le Feu“ von Henri Barbusse und Zeitdokumenten.

In der dissonant tönenden Koproduktion mit dem Theater NTGent agieren elf deutsche und belgische Darsteller, darunter Burghart Klaußner, mit Leib und Seele. Die Textcollage schuf Perceval, der belgische Leitende Thalia-Regisseur, mit Christina Bellingen und Steven Heene (Musik: Ferdinand Försch).

Ein Trompeter (Bernd Grawert) bläst. Es wird dunkel. Über die Metallplatte ziehen Gesichter von Soldaten von damals. Satzfetzen schwirren durch die Luft wie Schüsse, die ins Herz zielen. „Auf euren Schultern ruht das Vaterland.“ – „Der beste Schütze, den ich hatte, war erst 14.“ – „Wer hier nicht den Verstand verliert, muss zumindest das Gefühl verlieren.“ – „Wir sind gefährliche Tiere geworden.“ Worte auf deutsch, französisch, englisch und flämisch – die Zuordnung erscheint hier fast gleichgültig. Weggeschossene Gesichter, Deserteure, Amputation, trostlose Angehörige zuhause, Pferde, deren Gedärm aus dem Leib quillt auf allen Seiten – all das bezeugt das Ensemble unter anderem mit Orignal-Feldpostbriefen.

Es ist diese Innensicht der einfachen Soldaten auf den heute fern erscheinenden Krieg, die die äußerlich kunstvoll-nüchterne Inszenierung so eindringlich macht. Dabei erzählt der Abend auch von konkreten Schicksalswegen – denen deutscher Kameraden aus Remarques Weltbestseller, einer belgischen Bäuerin, die vier Söhne und eine Tochter verliert, einer Engländerin, die nach dem Sterben ihres Verlobten als Schwester im Lazarett arbeitet.

Die Akteure aus Gent und Hamburg haben dafür zunächst jeweils in ihren Häusern geprobt. Die Belgier reisten auch nach Ypern, wo von den Deutschen erstmals eingesetztes Chlor- und Senfgas unvergessenes Leid anrichtete. „Ich habe Freunde, die mich für verrückt erklärt haben, als ich nach Deutschland gezogen bin“, erklärt Perceval (56) im Programmheft. Im Jahr 1999 hat er am Deutschen Schauspielhaus und in Salzburg mit seinem zwölfstündigen Shakespeare-Zyklus „Schlachten!“ Furore gemacht, seit 2009 ist er am Thalia tätig. „Front“ wurde bereits zum Edinburgh International Festival im August eingeladen. Gastspiele etwa durch die Benelux-Staaten und nach Reims sind geplant.