Der scharfsinnige Beobachter des Politikbetriebs wurde 76 Jahre alt. Jürgen Leinemann porträtierte im „Spiegel“ die Mächtigen – und thematisierte seine eigene Krebserkrankung.

Berlin/Hamburg. Er hielt Deutschlands Politikern einen Spiegel vor – und behielt sich dabei selber stets im Blick: Jürgen Leinemann hat wie wohl kein anderer deutscher Journalist das Innenleben der Bundesrepublik ausgeleuchtet. Mit seinem geschärften Sinn für Gesten, Nebensätzen und Stimmungen betrachtete der Spiegel“-Reporter Politik als großes Theater, als Inszenierung von Darstellern, die vor allem die Angst vor ihrem Publikum antreibe.

So klang das Fazit des Journalisten nach fast 40 Berufsjahren, wie er es in seinem Buch „Höhenrausch“ festhielt. Bis zum Ausbruch seiner Krankheit hatte Leinemann über die Mächtigen im Land und gelegentlich auch über Fußball geschrieben. Am Sonntag ist er mit 76 Jahren in Berlin gestorben.

Mit seinen Beobachtungen betrachtete sich der 1937 in niedersächsischen Burgdorf geborene Leinemann immer wieder auch selbst. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie anfällig Politiker und Journalisten für Suchtverhalten sind, vor allem dann, wenn sie im Zentrum der Macht stehen. Sie sehnten sich nach Anerkennung in einem Leben, das sich abgekoppelt habe von der Realität und sich wie in einem Film abspiele.

„Ich kenne jeden Satz, jede Bewegung, jeden Gesichtsausdruck“, sagte Leinemann in einem „Zeit“-Interview über den Talkshow-Auftritt von Prominenten, „es ist die schiere Langeweile“.

Sein Handwerk hatte Leinemann nach dem Germanistik-Studium bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) gelernt, für die er später aus Washington berichtete. Von 1971 an arbeitete er für den „Spiegel“, zunächst als Korrespondent in der amerikanischen Hauptstadt, von 1975 bis 1989 dann als Leiter des Bonner „Spiegel“-Büros, wo er vor allem seine scharfsinnigen Porträts und Reportagen schrieb.

Viele „Spiegel“-Leser blätterten sich montags als erstes bis zu Leinemanns Berichten durch das Blatt. Er beschrieb Politiker aus der Nähe, ohne dabei die Distanz zu verlieren.

Für einen Text über den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) erhielt er 1982 den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Darin beschreibt er Genscher bei einem Treffen mit Parteifreunden in Hamburg, die ihn zum Bruch mit der damaligen sozial-liberalen Koalition in Bonn drängten. „Er blinzelt. Fast unmerklich zuckt es von Zeit zu Zeit um sein linkes Auge, was den jeweils Sprechenden irritiert“, schrieb Leinemann. „Aber bevor er noch darauf reagieren kann, ist das Kniepen verschwunden. War es eine Täuschung? Oder signalisiert der FDP-Chef doch an verfänglicher Stelle Komplizenschaft?“

Es waren solche Beobachtungen, die Leinemanns unverwechselbaren Stil prägten. Nach dem Regierungsumzug nach Berlin arbeitete er als Autor für den „Spiegel“, schrieb Bücher und war an einem TV-Porträt des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) beteiligt.

Geradlinig verlief Leinemanns Karriere nicht. Als er mit Anfang 30 die Leitung des Washingtoner „Spiegel“-Büros übernimmt, fühlt er sich völlig überfordert. Die Erfahrung mit Depressionen, dem körperlichen und psychischen Zusammenbruch, aber auch die Unterstützung durch Selbsthilfegruppen prägten fortan sein Leben. Offen sprach er über seine lange Alkoholabhängigkeit und wie er täglich eine Flasche Wodka trank, um überhaupt arbeiten zu können. So habe er auch gelernt, Politiker in Suchtkategorien zu beschreiben.

Der wohl persönlichste Text Leinemanns ist sein Buch „Das Leben ist der Ernstfall“, in dem er über seine Krebserkrankung schrieb. In einem Artikel vom September 2007 für das „Zeit-Magazin“ berichtete er wenige Wochen nach seiner Pensionierung schonungslos, wie sich der Tumor in seinem Körper ausbreitet, aber auch den bewegenden Zuspruch seiner Ehefrau, seiner Kinder und Freunde. Es klang wie ein Abschied. „Ich fürchte das Sterben als einen quälenden, schmerzlichen Prozess, aber nicht den Tod“, schrieb er damals.