Zwei Jahre schrieb der an Krebs erkrankte Publizist Jürgen Leinemann gegen seine Verzweiflung an und veröffentlichte jetzt sein Buch “Das Leben ist der Ernstfall“.

„Ich geh schon mal voraus ins Arbeitszimmer“, sagt er und eilt durch seine große Charlottenburger Altbauwohnung. Auf einem Drittel des Schreibtischs stapeln sich noch Medikamente. Auf den anderen zwei Dritteln arbeitet er schon wieder. Ein Fortschritt, der ihm Freude macht. Seinem Mund fällt das Lachen manchmal noch schwer, aber nicht seinen Augen.

Jürgen Leinemann hat Krebs. Aber er leidet nicht am Krebs, sondern an den „Kollateralschäden“, wie er sagt: an den Folgen einer massiven Strahlentherapie. Sie haben sein Leben umgestülpt, ihn gequält, bis er sterbensmüde war. 2007 begann der Publizist und ehemalige „Spiegel“-Reporter eine Expedition in die eigenen Tiefen. Er schrieb gegen die Verzweiflung an, schrieb sich aus der Depression heraus. Das Ergebnis liegt jetzt vor: sein Buch „Das Leben ist der Ernstfall“.

Im Mai 2007 hatten ihm die Ärzte mitgeteilt, was der Grund seines ständig maladen Halses war: Zungenbodenkrebs. Supraglottisches Larynx-Zungengrund-Karzinom. Der Tumor erwies sich als nicht operabel, ohne die Zunge zu gefährden. Also blieb nur, ihn aus dem Schlund wegzubrennen.

Natürlich stellte sich Leinemann all die Warum-Fragen. Warum ich? Warum jetzt? Warum so? Nach den 44 Tagen Strahlentherapie hatte er 20 Kilo abgenommen und brauchte einen Gehwagen. Morgens, mittags, abends kam der Pflegedienst, um ihn über eine Sonde künstlich zu ernähren. In Arbeitszimmer und Küche stapelten sich Schläuche, Pumpen, die Beutel mit der grau-gelben „Astronautenpampe“.

Leinemann empfand die Krankheit als Kränkung, als tiefe, existenzielle Erniedrigung. „Auch ich hatte immer geglaubt, Krebs kriegen nur die anderen“, sagt er. „Natürlich hatte ich dieses Denken drauf: Was will dir deine Krankheit sagen? Meine Krankheit sagte: ‚Halt die Schnauze.’ Das wollte ich mir nicht gefallen lassen.“

Gerade war er 70 geworden, wurde mit Preisen geehrt. Er hatte sich ein produktives, agiles Rentenalter vorgestellt. Er schrieb an einem Buch, arbeitete an einer Fernsehdokumentation, hatte einen Lehrauftrag. Er wollte jemand bleiben, der sich einmischt. Stattdessen schwächten ihn Schmerzen, Schluckbeschwerden, Schlaflosigkeit.

Vor allem kränkte ihn das „Nicht-mehr-mitspielen-können“. In seinem Buch „Höhenrausch“ hatte er beschrieben, warum so viele Politiker an der Macht kleben: Weil öffentliche Aufmerksamkeit und Privilegien wichtig werden wie eine Droge. Und er selbst? Leinemann machte sich nichts vor: Er hatte es genossen, viele Jahre lang im „Vorhof der Macht“ zu Hause zu sein.

Und jetzt, wie ein sarkastischer Witz, hatte er Vorhofflattern. Unerbittlich übernahm sein Körper die Regie. Auf die misslungene Einsetzung einer Magensonde folgte eine Bauchfellentzündung. Kurz darauf eine Lungenentzündung. Herzrhythmusstörungen. Er bekam einen Herzschrittmacher, aber das Vorhofflattern blieb. Am meisten Angst machte ihm, was in seinem Kopf vorging. Er konnte sich schwer konzentrieren, hatte Gedächtnisstörungen, Albträume und Halluzinationen. War die hohe Dosis der Schmerzmittel schuld?

Er war mitten in einem Drama, für das noch keiner den Schluss geschrieben hatte. „Mal hab ich mich bestraft gefühlt, bin im Selbstmitleid versackt. Mal habe ich gedacht: Hast es auch nicht besser verdient, warst doch immer so’n eingebildeter Pinsel; hast dir schöngeredet, dass du mit allen gut konntest. Und dann gab es Phasen von Kapitulation, wo ich dachte: So, es ist vorbei.“

Belastend war dieser Zustand auch für seine Familie, vor allem seine Frau Rosemarie, Ärztin und Psychotherapeutin. Im April 2008, nach einer neuen Operation, erwachte er aus der Narkose – mit einer Luftröhrenöffnung. Seither spricht Leinemann mit einer Sonde in der Luftröhre, einem Tracheostoma. Er erlebte das wie im Schock.

Aber seine Tochter Susanne sagte: „Du hast gleich drauflosgeredet.“ „Und was habe ich gesagt?“, fragte er. „Naja, was du so sagst – hallo Schätzchen oder so was.“ Er hatte eine „quäkende Automatenstimme“ erwartet. Aber es ist unverkennbar seine Stimme, diese tiefe, knarrende Leinemann-Stimme. Und die Halluzinationen, die Konzentrationsschwächen waren weg. Sein Gehirn wurde wieder richtig durchblutet.

Heute findet er, dass seine Wut über die Krankheit und das, was sie ihm antat, viel größer hätte sein müssen. War er denn früher ein wütenderer Mensch? „Nein, ich war immer zu nett.“

Das werden viele ganz anders empfunden haben. Niemand hat das Personal der Macht jahrelang genauer seziert als er. In seinen Porträts kroch er Ministern, Kanzlern, Ministerpräsidenten und Parteisvorsitzenden bis in die Gehirnwindungen. Er deckte ihre Schwächen und unvermutete Stärken auf.

Das hatte er an sich selbst gelernt – als er sich mit seiner Alkoholsucht auseinandersetzen musste. Leinemann stammt aus einer Bauernfamilie in Niedersachsen, aus einfachen Verhältnissen. Auf den rasanten Aufstieg – mit 30 Jahren in Washington Korrespondent erst bei dpa, dann beim „Spiegel“ – war er nicht vorbereitet. „Je länger es gut ging, desto mehr fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Im Hinterkopf hatte ich immer eine Stimme, die sagte, gleich fliegt alles auf.“ In diese Kluft zwischen Schein und Sein goss er Alkohol.

1974 fand ihn ausgerechnet sein Chef Rudolf Augstein, als er in Washington sturzbetrunken unterm Schreibtisch lag. In einer Spezialklinik in Bad Herrenalb wurden ihm seine Lebenslügen ausgetrieben – „mit einer Mischung aus beinharter Konfrontation und liebevoller Akzeptanz“. Seit 1976 ist er trocken. „Ich habe vor allem gelernt, dass ich mich überhaupt nicht kannte. Dass ich ein Bild von mir hatte, das zusammengesetzt war aus den Erwartungen anderer.“

Seinen geschärften Blick richtete er im Lauf der Jahre auf alle Prominenten der Bonner Republik – Brandt, Schmidt, Strauß und Wehner, auf Kohl und auch die Jüngeren wie Schröder oder Fischer. Nach der friedlichen Revolution in der DDR lernte er 1990 in einem Büro des „Demokratischen Aufbruchs“ eine blasse junge Frau kennen, die gerade mit einem Kopiergerät kämpfte. Sie hieß Angela Merkel…

Doch, sagt Jürgen Leinemann, er nimmt auch jetzt teil am politischen Geschehen, es geht gar nicht anders. Aber seine Erfahrungen mit der Krebskrankheit hätten ihn ernüchtert, ihn demütiger, aber auch gelassener gemacht. Meistens jedenfalls. „Mich interessieren heute andere Dinge viel mehr: Biografien etwa. Geschichten von Menschen, die an ihrem Schicksal gewachsen sind.“

Viele kreative Menschen bewältigen schwere Krankheiten schreibend. Der Opern- und Theaterregisseur Christoph Schlingensief zum Beispiel: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ heißt sein Krebs-Tagebuch. Oder der Lyriker Robert Gernhardt, der über seine Herzerkrankung den Gedichtzyklus „Prä-OP“ veröffentlichte. Auch Hildegard Knef schrieb sich ihre Brustkrebs-Diagnose nach der 55. Operation in „Das Urteil“ von der Seele. Einer ihrer Sätze könnte auch bei Leinemann stehen: „Alles, was ich dabei überwinden musste, war meine Eitelkeit.“