In der Pogromnacht vor 75 Jahren blieb eine kleine Synagoge in Hamburg unversehrt. Das heilige Interieur steht heute in Stockholm
Hamburg. Als der Jude Manfred-Moritz Bundheim am Morgen des 10. November 1938 mit seinem Fahrrad zum Frühgebet fuhr, sah er in der Bornplatzsynagoge einen „rötlich dunklen Schein“. Hamburgs einzige freistehende Synagoge mit der monumentalen Kuppel brannte. Auch hörte der 14-Jährige das „Zerbersten von Großscheiben“.
Die 12-jährige Ruth Frank sah wenig später junge SS-Leute. Sie standen „breitbeinig mit aufgeknöpften Hosen“ da und haben „die Rollen der heiligen Schriften ‚bewässert‘ und verbrannt“, erinnert sie sich. An einem jüdischen Ort in Hamburg passierte allerdings überhaupt nichts: Vor der Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße 3-5 blieb die Lage die ganze Zeit über ruhig. So jedenfalls zitiert die Publikation „400 Jahre Juden in Hamburg“ den jungen Zeitzeugen Bundheim.
Hatte der brandschatzende Mob während der Pogromnacht dieses jüdische Gotteshaus einfach übersehen? Überall in m Deutschen Reich steckten die Nazis in der Nacht des 9./10. November 1938 Hunderte von Synagogen in Brand, 30.000 Menschen wurden von der Gestapo verhaftet und Tausende jüdische Geschäfte zerstört. Als Auslöser für die Pogrome am 9. November 1938 galt in der Nazipropaganda das Attentat des jungen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftsrat in Paris, Ernst vom Rath. Statt des verharmlosenden Begriffs „Reichskristallnacht“ wird seit den 1970er Jahren das Wort Pogromnacht benutzt. Auch in Hamburg kam es zu Brandanschlägen auf jüdische Einrichtungen und Geschäfte und zu Angriffen gegen Juden, wie der Historiker Jürgen Sielemann berichtet.
Über das Ausmaß der Zerstörungen im eher liberal geprägten Hamburg gibt es nur wenige noch erhaltene originale Quellen, weil die Nazis viele Akten vernichtet hatten. Offenbar versuchten die Hamburger Nazi-Schergen, das am 9. November 1938 nur unzureichend umgesetzte Pogrom einen Tag später nachzuholen. Daher wurden, schreibt Jürgen Sielemann, die massiven Brandanschläge erst „Stunden nach dem von Goebbels öffentlich verkündeten Verbot weiterer Ausschreitungen verübt“.
Aber die kleine Synagoge mit ihren 125 Plätzen blieb wie durch ein Wunder verschont. Auch in den folgenden Tagen passierte hier nichts. Als der Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach in jenen Novembertagen das Ausmaß der Zerstörung sah, gab es für ihn bei allem Entsetzen nur eine positive Überraschung: Nämlich, dass die Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße 3-5, im Tief- und Hochparterre eines unscheinbaren Wohnhauses gelegen, unversehrt geblieben war, weil die Nazis sie schlicht übersehen hatten. Während andere jüdische Einrichtungen im Grindelviertel stark beschädigt wurden, bot der Anblick von Hamburgs ältester Privatsynagoge mit dem Thora-Schrein, dem Pult, den Bänken und den heiligen Schriften das Bild aus einer immer noch heilen Welt. Der Ober-Rabbi sah darin einen „Fingerzeig Gottes“ und drängte zur Eile: Die Synagoge müsse für alle Zeit vor den braunen Horden gerettet werden, entschied er.
Als das jüdische Leben noch blühte und mehr als 23.000 Juden in der Hansestadt lebten, hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts zwei orthodoxe jüdische Vereine zusammen geschlossen. In den Räumen der Heinrich-Barth-Straße im Grindelviertel etablierten sie unter dem Namen „Keliat Jofi“ (Krone der Schönheit) ihre Betvereinigung. Laut Satzung, Paragraf 2a, bestand das Vereinsziel unter anderem darin: „Unterhaltung von Synagogen oder Gründung solcher für die von den Mitgliedern des Vereins täglich abzuhaltenden öffentlichen Gottesdiensten.“
Die Privathaus-Synagoge verfügte über 45 Plätze für Frauen und 80 Plätze für Männer, die auf einem hohen Podest gelegen waren. Ein Thora-Schrein, Bänke sowie Thora-Mäntel und –vorhänge gehörten zum sakralen Interieur.
Doch nach den Ausschreitungen gegen die Juden hatte die Gemeinde nicht mehr den Mut, hier zu beten. Viele Juden saßen bereits auf gepackten Koffern und wollten das Deutsche Reich verlassen und ihr Leben in Sicherheit bringen. Allein zwischen 1933 bis 1941 emigrierten rund 12.000 Juden aus Hamburg.
Einer, der schon früh die Gefahren für Leib und Leben erkannt hatte, war der Hamburger Kaufmann Hans Lehmann. Er, ein guter Freund des Oberrabbiners Carlebach, lebte inzwischen in Stockholm. Um die Synagoge zu retten, schrieb Carlebach an Lehmann: „Sie können die gesamte Synagoge haben, wenn Sie nur den Transport bezahlen“, zitiert die „Jüdische Allgemeine“ aus diesem Brief. Selbstverständlich sagte der frühere Hamburger Hans Lehmann zu. Daraufhin beantragte Carlebach eine Exportlizenz für „Holz und Hausrat“. Und so wurde einige Wochen nach dem Novemberpogrom das gesamte heilige Mobiliar der Synagoge über die Ostsee nach Stockholm verschifft. Die Nazis ahnten nichts von der wahren religiösen Bedeutung dieser Fracht – und stellten die notwendigen Bescheinigungen aus. Am 19. Oktober 1939 meldete die Gestapo in einem Bericht an die Hamburger Staatsverwaltung jedenfalls, dass die Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße aufgelöst und die Räume zu Wohnungen geworden seien. Beim Hamburger Feuersturm 1943 wurde das Haus übrigens zerstört.
75 Jahre später sind die religiösen Gegenstände gleich auf doppelte Weise erhalten: in Stockholm als Original und im Hamburg Museum als Kopie. Seit der Rettung nach Schweden gehört das Interieur aus Hamburg der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Östermalm, einem wohlhabenden Bezirk Stockholms. Aber das Interesse der Beter an der wechselvollen Geschichte all der Bänke, Pulte, Bücher und des Thora-Schreins hält sich offenbar in Grenzen. Wie die „Jüdische Allgemeine“ schreibt, will Roman Ramuald Wasserman Wroblewski die Erinnerung an die Herkunft und das Wunder der Rettung wachhalten. Der pensionierte Mediziner und Initiator der Stockholmer Schoa-Gedenkstätte setzt sich für die Restaurierung der mit Jugendstilblüten dekorierten Bänke und des Thora-Schranks ein. Mehr noch: Er will herausfinden, welche Künstler und Tischler einst die Bänke mit den Blumen gefertigt hatten. Die Spur, sagt er, führe nicht nur nach Hamburg, sondern auch nach Ungarn und Österreich.
Jüngeren Datums sind dagegen die Lesepulte, Sitzbänke und der imposante Thora-Schrein im Hamburg Museum am Holstenwall. Die Abteilung „Juden in Hamburg“ zeigt einen Nachbau der geretteten Synagoge – als Symbol der Erinnerung und Mahnung.