Studie: In Europa fühlt sich die Mehrheit bedroht, auch durch Angriffe im Internet
Brüssel. Nimmt der Antisemitismus aus Sicht der Betroffenen zu? Wie erleben Juden in Europa Diskriminierung und Gewalt in ihrem Alltag? Diesen Fragen ging erstmals eine groß angelegte EU-Studie nach, die am Freitag veröffentlicht wurde. Ein Ergebnis: 76Prozent der befragten Juden sind überzeugt, dass der Antisemitismus in ihrem Heimatland in den vergangenen fünf Jahren stärker geworden ist.
Außerdem ist Angst ein ständiger Begleiter im Leben vieler Menschen mit jüdischem Glauben: Nahezu jeder zweite (46 Prozent) fürchtet, wegen seines Glaubens im kommenden Jahr verbal angegriffen zu werden, mehr als jeder dritte Jude (33 Prozent) hat sogar Sorge, Opfer einer Gewalttat zu werden. 57 Prozent der Befragten mussten nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr mindestens einmal erleben, dass der Holocaust als „Mythos“ oder als „übertrieben dargestellt“ bezeichnet wurde.
Die Umfrage wurde von der EU-Agentur für Grundrechte in Wien, einer offiziellen Institution der Europäischen Kommission, in acht Ländern durchgeführt. Neben Deutschland gehörten dazu auch Belgien, Frankreich, Ungarn, Italien, Schweden, Großbritannien und Lettland. In diesen Staaten leben 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung innerhalb der EU. Der Chef der Behörde, Morten Kjaerum, richtet nach Vorlage der Ergebnisse einen dringenden Appell an die EU-Staaten: „Während viele Regierungen große Anstrengungen unternommen haben, um Antisemitismus zu bekämpfen, sind noch mehr gezielte Maßnahmen notwendig.“ Sorge bereitet ihm vor allem der zunehmende Antisemitismus im Internet. Laut Umfrage ist jeder zweite Jude in der EU der Ansicht, dass der Antisemitismus im Netz „stark angestiegen“ sei. Dies gilt vor allem für Ungarn, Frankreich und Belgien. Die EU-Länder müssten Maßnahmen erwägen, um die Aufdeckung und Verfolgung von Verbrechen mit antisemitischem Hintergrund im Internet zu verbessern, so Kjaerum.
Dabei unterscheidet sich die Art der antisemitischen Äußerungen von Land zu Land deutlich. In Deutschland, Belgien, Frankreich und Italien sei besonders der Vorwurf verbreitet, die „Israelis würden sich wie Nazis gegenüber den Palästinensern“ verhalten. 42 Prozent der Juden in Deutschland mussten sich im vergangenen Jahr anhören, dass „Juden für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt haben, dass sie Opfer des Holocaust sind“. In Ungarn lebende Juden wurden besonders häufig (59 Prozent) mit dem Vorwurf konfrontiert, Juden seien „für die aktuelle Wirtschaftskrise verantwortlich“. In Ungarn und Frankreich scheint die Auffassung weit verbreitet zu sein, dass „Juden zu viel Macht haben“ – 75 Prozent der ungarischen und 56 Prozent der in Frankreich lebenden Juden haben diesen Vorwurf in jüngster Zeit gehört (zum Vergleich: 28 Prozent der deutschen und 21 Prozent der britischen Juden). In Deutschland sind 66 Prozent der befragten Juden der Ansicht, dass die Entwicklung im Nahost-Konflikt eine „sehr große“ Rolle für ihre Sicherheit spielt. Sie würden „immer“ oder „regelmäßig“ für politische Maßnahmen der israelischen Regierung von ihren Mitbürgern angeklagt oder verurteilt.