Hamburger Chöre, die begeistern (Teil 7): Im Meilshofchor singen Menschen mit psychischen und physischen Behinderungen Lieder wie „Rolling Home“, „Veronica, der Lenz ist da“ und „Amazing Grace“

„Ich kann keine Noten lesen, und ich kann auch nicht singen“, sagt Annemarie Haase. Eine ungewöhnliche Behauptung (und gewiss auch eine große Portion hanseatische Bescheidenheit) für eine Person, die seit Jahren jede Menge Musik in das Leben der Leute bringt. Wer die 90-Jährige erlebt, wie sie mit einer gewissen James-Last-Lässigkeit ihren Meilshofchor dirigiert, die Hand leicht schwingend, der merkt: Um Liebe zu Melodien und Menschen zu vermitteln, bedarf es nicht immer einer offiziellen Chorleiter-Ausbildung.

Vor 25 Jahren gründete Haase, im Hauptberuf Sozialpädagogin, den Meilshofchor für all jene, die mit körperlichen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen leben. Hildegard Wilkens gehörte damals zum vierköpfigen Gründungsteam, mittlerweile sind rund 30 Sängerinnen und Sänger dabei. „Überall, wo wir gesungen haben, haben sich Leute gefunden, die mitmachen wollten“, erklärt Wilkens und schaut mit ihren blauen Augen sehr gewitzt durch ihre schmale Brille. Singen steckt an. Und hat oberste Priorität. Als die Probe einst von Mittwoch auf Donnerstag verlegt wurde, hat Wilkens sofort ihren Dienst in der Schokoladenfabrik getauscht. „Wohl auf in Gottes schöne Welt“ ist ihr Lieblingslied.

Benannt hat sich der Chor nach dem Meilshof, einst eine alte Flurbezeichnung, die später dem Wohnheim für psychisch Kranke in Farmsen seinen Namen gab. Im Festsaal von Pflegen und Wohnen an der August-Krogmann-Straße trifft sich der Chor jetzt.

Eine große Wärme ist bei der Begrüßung zu spüren: viele Umarmungen, Hände reiben Schultern, herzliches Hallo. Die Gruppe verteilt sich auf drei Stuhlreihen. Zwei besonders aktive Sänger, die gerne große Gesten malen und tanzen, bauen sich stehend hinter den Sitzenden auf. Zwei Akkordeonspieler geben den Klang vor. Und ohne Einsingen geht es dann mitten hinein in einen munteren Volksliederkanon. Die meisten halten die roten Gesangsbücher geschlossen. Klassiker wie „Heute an Bord“, „Die Gedanken sind frei“, „Rolling Home“ oder „In Hamburg sagt man Tschüss“ intonieren sie auswendig und mit einer so unmittelbaren Freude, dass das Herz den ein oder anderen unsauberen Ton komplett überhört.

Ein Sänger mit besonders schöner Stimme ist Jens Nabel. Er ist der Einzige, der mit Mikrofon singt. Mit kerzengeradem Rücken sitzt der 29-Jährige da und hält sich das Gerät nah an den Mund. Für sein keckes Solo in „Veronica, der Lenz ist da“ steht er sogar auf.

„Musik hatte schon immer eine Bedeutung in meinem Leben. Als Jugendlicher habe ich Querflöte und Klavier gespielt und im Knabenchor St. Nikolai gesungen“, sagt Nabel und schickt ein sehr großes, offenes Lächeln hinterher. Seit drei Jahren wohnt er im Meilshof. Und Dieter Kühl – ein wuchtiger Typ, der eine Lederweste über seinem karierten Hemd trägt – betont die positive Wirkung, die der Chor hat: „Ist das nicht so, dass du früher öfter zum Psychologen musstest, dass dich das Singen entlastet und befreit?“ Sein Chorkollege Jens Nabel entgegnet ganz ruhig und zufrieden: „Ja, das ist wohl so.“

Wie da die unterschiedlichsten Charaktere im Gesang zusammenfinden, das macht die ungeheure Ausstrahlung dieses Chors aus. Eine Gemeinschaft, die mit dem Einsatz Einzelner steht und fällt. Dieter Kühl zum Beispiel entdeckte die Gruppe, während er eine Bekannte im Meilshof betreute. „Das ist eine lustige, laute Gesellschaft“, sagt er und lacht verschmitzt. Seit mehr als zwölf Jahren singt der Pensionär, der früher als selbstständiger Kaufmann arbeitete, nun mit, am liebsten schmettert er „Wenn die Nordseewellen“. Zudem übernimmt er Fahrdienste und Finanzen. „Dieter ist unser Fels in der Brandung“, sagt Leiterin Annemarie Haase.

In Seniorenheimen singt der Meilshofchor regelmäßig, aber auch bei der Messe „Du und Deine Welt“ ist er bereits aufgetreten, ebenso spontan an den Landungsbrücken. Ein besonders bewegendes Konzert gab die Gruppe im UKE, als eines der Mitglieder – „unsere Erika“, wie Haase sagt – im Sterben lag. „Wir haben alle durchgehalten und Weihnachtslieder gesungen. Und manchmal liefen Tränchen“, erinnert sich Haase.

Durch dick und dünn gehen sie. Die Stimmung bei der Probe reicht von melancholisch, etwa bei „Am Brunnen vor dem Tore“, bis ausgelassen, zum Beispiel wenn Akkordeonist Stephan Wiemer auf einmal ruft: „Lass mal Beethovens Neunte spielen, da hab’ ich jetzt Bock drauf!“ Und nach dem Besuch bei diesem kleinen, feinen Chor klingt ein Vers nach, den alle zur Melodie von „Amazing Grace“ gesungen haben: „Das Glück der Welt ist oft so klein/dass man es übersieht/es kann wie eine Blume sein/die im Verborg'nen blüht.“

Nach „Chören, die begeistern“ suchte das Hamburger Abendblatt, mehr als 55 Chöre schickten Videoclips ein. Sieben von ihnen wurden porträtiert. Videos der vorgestellten Chöre: www.abendblatt.de