Mit der Verleihung der Monica-Bleibtreu-Preise gingen am Sonntag Abend die von Axel Schneider ins Leben gerufenen Theatertage zu Ende. Die Auslastung in den zwölf Aufführungen lag bei 90 Prozent.
Hamburg. Die Beschwerde kommt meist postwendend, sobald die Kritikerjury die Auswahl der bemerkenswertesten Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen verkündet: „Schon wieder die.“ Wiederkehrende Gewinner hatte auch die Jury der zweiten bundesweiten Privattheatertage in der großen Abschlussgala am Sonntag zu verkünden. In der Kategorie (Zeitgenössisches) Drama gewann im zweiten Jahr in Folge das Berliner Ballhaus Naunynstraße mit „Die Saison der Krabben“ des Autors und Regisseurs Hakan Savas Mican. Auch der Preisträger in der Kategorie (Moderner) Klassiker ist ein Bekannter aus dem vorigen Jahr, die Bremer Shakespeare Company, diesmal mit Ricarda Beilharz’ Version von „Richard III.“. Als beste Komödie wurde die Koproduktion der Komödie Berlin mit der Komödie Winterhuder Fährhaus „Eine Sommernacht“ von David Greig und Gordon McIntyre in der Regie von Folke Braband ausgezeichnet. Den Publikumspreis nahm die Inszenierung „Der Vorname“ nach Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière vom Jungen Theater Göttingen verdient mit nach Hause.
„Die Saison der Krabben“ zeigt einmal mehr das hohe Niveau und die Qualität des Berliner Ballhauses, das mit seinem Programmschwerpunkt Interkultur seit Jahren überregionale Aufmerksamkeit genießt. In diesem Singspiel lässt Regisseur und Autor Hakan Savas Mican mithilfe von Schubertliedern gegen trennende Klischees zwischen Menschen unterschiedlicher Wurzeln anspielen. Das Sehnsuchtsmoment im deutschen Kunstlied und das anatolische Volkslied verbinden sich dank der Arrangements der Pianistin und Komponistin Sinem Altan zu einer eigenständigen Kunstform, Symbol dafür, wie sehr das kulturelle Ich inzwischen ein Fluidum ist, in dem auch die Musik nicht unmittelbar identitätsstiftende Funktion genießt. Oder eben doch, auf neue Weise, wenn man sie beherzt aufgreift und interpretiert, wie dieses grandiose Ensemble aus Schauspielern, Sängern und Musikern.
Die wie immer tolle Sesede Terziyan, bekannt aus dem Bühnenhit „Verrücktes Blut“, spielt nuancenreich alle Facetten der interkulturellen Verzweiflung auf der in der Fabrik errichteten Laufstegbühne. Sie ist Asiye, Teil einer Familie aus der „anonymen Masse“, die von der bürgerlichen Existenz träumt. Und an den familiären Normen im Verbund mit dem Gefühl kultureller Spaltung zu zerbrechen droht. Die Flucht in eine zweite Identität als Schauspielerin Jasmin bringt keinen Segen. Am Ende checkt sie in eine Nervenheilanstalt ein. In einem surrealen Bilder- und Liederreigen wechseln die Schauplätze ständig, Identitäten werden neu definiert. Glaubhaft verwebt Mican ein individuelles Schicksal mit Elementen des türkischen Emanzipations-Films „Ach, Belinda“ und John Cassavetes’ Meisterwerk „Frau unter Einfluss“.
Gewollt mit den Insignien des Boulevards, von denen Kritiker des Privattheaters meinen, sie würden dort per se angestaubtes Kunstgewerbe vorgesetzt bekommen, spielt dagegen der Publikumspreisträger „Der Vorname“, basierend auf einem französischen Kinoerfolg. In einem gewollt modernen und schon deshalb angespießten Dekor entgleist ein Dinner einer intellektuellen Vorzeigefamilie. Der Bruder der Gastgeberin schockt mit der Enthüllung, seinen ungeborenen Sohn „Adolphe“ nennen zu wollen, weshalb sich sein Schwager, ein Literaturprofessor, in Rage redet. Angestoßen durch den Namen zerpflückt die Runde plötzlich Ticks, Frustrationen und vermeintliche Homosexualität eines langjährigen Freundes, bis nicht nur das Büfett in Scherben liegt. Das Stück schöpft aus geistreichen Dialogen. Das Ensemble, vor allem Constanze Passin und Dirk Böther, balanciert gekonnt zwischen Humor und tragischen Untertönen.
Die Sieger-Entscheidungen werfen gleichwohl die Frage auf, ob unter den insgesamt 72 Inszenierungen, die die neun Juroren – allesamt keine Kritiker – deutschlandweit bereisten, überwiegend solides Handwerk zu sehen war, aber offenbar wenig wirklich Preiswürdiges. Auch wenn das Festival bewusst keine Bestenschau sein, sondern dem Publikum die Vielfalt der Theaterlandschaft zeigen will, war die Qualität der Auswahl durchwachsen. Vor allem die Einladung der unausgegorenen Klassikercollage „Keine alltägliche Übung oder zwischen den Beinen eines Mädchens“ vom Theater FACT aus Leipzig gibt Rätsel auf. Das Stück verschränkt Büchners „Leonce und Lena“ mit Hansjörg Schneiders „Die Theaterfalle“
Hinter einem Gaze-Vorhang, dessen Funktion sich nicht erschließt, mäandert Prince Leonce (Thomas Deubel) sinnierend über Ennui und Überdruss, und von Beginn an transportiert sich diese Langeweile auch in der Form. Die Liebe zu Prinzessin Lena (Sabine Becker) soll seinem ziellosen Leben einen Fokus geben. Szenenwechsel, ein Kellerverlies des Theaters nach einem technischen Alarm. Hier kochen als Theater im Theater vorhersehbare Animositäten zwischen einer Diva, einem Regisseur und seinem Verwaltungsdirektor hoch. Leider furchtbar spannungsarm, langatmig inszeniert und blass gespielt. Andere Inszenierungen wie etwa „Der Parasit oder die Kunst, sein Glück zu machen“ vom Theater Die Fähre in Singen und auch „Kebab Connection“ vom Grips Theater Berlin krankten an teils arg überagierenden Schauspielern.
Dennoch, von derlei Ausreißern abgesehen waren die Privattheatertage, von Hamburgs Multiintendanten Axel Schneider verdienstvoll angestoßen, erneut ein Erfolg. Die Preisträger sind der Auszeichnung würdig. Die Auslastung in den zwölf Vorstellungen, an unterschiedlichen Spielstätten zwischen Harburg und Kampnagel, lag bei 90 Prozent.
Als Kaleidoskop eines engagierten Schaffens auf deutschen Theaterbühnen abseits des subventionierten Stadttheaters und ebenso als Ansporn sind die Privattheatertage unbedingt eine Fortführung wert.