Mangoschaum-Kaltschale als Vorspeise und Konzerte, bis die Ohren bluten: So schön laut war’s auf der „Full Metal Cruise“ ab Hamburg. Rund 2000 Metaller und 800 Crewmitglieder waren auf dem einwöchigen Törn mit dabei.
Le Havre. „Ruhe bewahren! Vollmachen! Weiterfeiern“ steht englisch als Gebrauchsanweisung auf den Spucktüten, die im Willkommenspaket der „Mein Schiff 1“ gereicht werden. Gut, die „Full Metal Cruise“ ist eine Art Wacken Open Air auf See. Aber wer Vorsicht an den Bars walten lässt, wird schon keine der vier Spucktüten brauchen, mit Seekrankheit ist bei ruhigem Wetter nicht zu rechnen. So landen die Papierbeutel auf dem Kabinensofa, man ist ja seefest nach abgerittenen Stürmen im Mittelmeer, vor Helgoland und in der Irischen See. Aber Poseidon ist wie das Internet – er vergisst nichts...
„Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein“, weiß die Flensburger Band Santiano, die beim Auslaufen im Hamburger Hafen auf dem Pooldeck auftritt. Und Bärte gibt es reichlich zu sehen bei den 2000 Passagieren. Dazu Kutten mit den Aufnähern der Helden oder dunkel- bis hellschwarze T-Shirts, Armeehosen und schwere Stiefel. Überall ist Schwarz das neue Schwarz, mit Farbtupfern aus bunten Piratenkostümen oder weißen Bordbademänteln. Die Stimmung ist schon bei der obligatorischen Rettungsübung gelöst und heiter. Mit großem Jubel geht es zurück an die Tränken, Anglühen für einen einwöchigen Törn von Hamburg nach Southampton, Le Havre, Amsterdam und wieder Hamburg. Es wird losgelegt wie die Feuerwehr, der Musikzug der Wacken Firefighters schickt am Cruise Center letzte Grüße gen Sonnenuntergang.
„Die Idee einer Metal-Kreuzfahrt hatten wir schon in den 90er-Jahren“, erinnert sich Holger Hübner, Organisator des Wacken Open Airs und Initiator der „Full Metal Cruise“, „aber damals war Metal tot“. Eine Aussage, die seinerzeit sogar Szene-Ikonen wie Bruce Dickinson von Iron Maiden oder Rob Halford von Judas Priest äußerten und ihre Bands für einige Jahre verließen. Metallica spielte Bluesrock, das Wacken Open Air war eher noch ein Dorffest.
Doch Metal war nie totzukriegen und erlebte ab Ende der 90er eine Renaissance. Denn in Sachen Treue und unbedingte Hingabe sind Metalfans einzigartig. Anpassungsfähig und genügsam richten sie ihren Lebensstil nach ihrer Leidenschaft aus, solange die Rahmenbedingungen stimmen. Bier, Bands und der Spaß des gemeinsamen Erlebens lockt sie in Scharen dorthin, wo Verstärker auf „11“ gedreht werden. Und das werden sie hier. 20 Bands spielen auf der Pooldeck-Bühne, im Theatersaal und im Casino, dazu gibt es Workshops, Lesungen, Filme, Comedy, Autogrammstunden, Fashionshows, Karaoke, einen Bordtätowierer, Landausflüge mit Clubkonzerten und was das „Wohlfühlschiff“ sonst noch zu „Iron Maiden“ unter den Kreuzfahrtschiffen macht. Man reckt bei den Auftritten die „Pommesgabel“-Satansbratengeste in die Luft, um danach im Restaurant das Besteck bei vier Gängen von außen nach innen abzuarbeiten. Diskrete Kellner machen Weinvorschläge, aus den Boxen säuselt zartes Motörhead-Gebretter.
In den Internetforen entstand schon bei Bekanntgabe der Reise der Streit um die Frage, ob das noch mit der eher proletarischen Metal-Kultur vereinbar ist. Denn billig ist die Reise nicht, 1000 Euro und mehr wurden je nach Kabine und Belegung aufgerufen. Dafür sind Wein, Bier und Softdrinks (ab 18 Uhr auch eisenhartes Zeug) sowie viele Angebote der Restaurants inklusive. „Und in Wacken ist man mit Ticket, Anfahrt, Bier, Merchandise und Verpflegung auch schnell mit 600 Euro dabei“, rechnet Hübner vor. Noch mehr wird es, wenn man wie viele ältere Fans ein Wohnmobil mietet, um nicht in Zelten abzusaufen. „Wacken-Schlamm gibt es nur als Fangopackung im Spa-Bereich.“
Einige Wellness-Anbieter klagen zwar über relative Flaute, aber das Fitnessstudio ist schon am ersten Morgen gut belegt, „Neckbreaker“-Massagen bei Gamma Ray lockern manchen Hals. Hübners ICS-Team und TUI Cruises, die nach Mottofahrten mit Helene Fischer, Udo Lindenberg und den Wiener Philharmonikern eine neue Zielgruppe schanghaien wollen, haben sich einiges einfallen lassen und dafür 100 Tonnen zusätzliches Schwermetall in jeder Form, vom Panorama-Plakat für die Dekoration von Decks, Aufgängen und Sälen bis zum Videospiel „Rocksmith“ gebunkert. Und Bier. Noch etwas mehr Bier. 30.000 Liter. Bei einem Pionier der Metal-Kreuzfahrten, den „70.000 Tons of Metal“ auf der „Majesty Of The Seas“ in der Karibik, lief bei der Premiere 2011 schon nach zwei Tagen der letzte Tropfen durch die Kehlen. Auch auf der „Mein Schiff 1“ zapfen die Bartender um ihr Leben. Bei großem Andrang werden Dosen durchgereicht.
Trotzdem erinnert manches an eine geruhsame Nordlandreise, bei denen der Altersschnitt deutlich höher ist als die 39 Jahre hier. Im Casino heimorgelt ein Alleinunterhalter. Man nippt am Mojito und amüsiert sich gediegen. Aber Mambo Kurt aus Hagen hat auch Slayers „South Of Heaven“. Eine Polonaise kreist um Ledersessel, an der Spitze ein Rollstuhlrocker. „Ich habe schon viel gesehen“, freut sich der alte Festival-Fahrensmann und Orgelgott, „aber das ist einzigartig.“
Bis Sonnenaufgang wird gefeiert, davon hört man in der Koje wenig. Dennoch ist die Nacht kurz, weil zehn Decks weiter unten Tausende Pferdchen aus den Dieseln galloppeln. Die Lüftung rauscht, jede Vibration wird in den Körper übertragen. Aufregung, zwei Bier und drei Mojitos meutern gegen die Müdigkeit. Und dann ist da noch Poseidon. Zuerst schickt er am zweiten Tag bei spiegelglatter, sonnenglänzender See auf dem Ärmelkanal einen Gruß in Form eines Schweinswals. Aber da war ja noch die Sache mit den Tüten. Am Beginn einer Schiffsführung sagt der Gleichgewichtssinn: „Da wackelt doch was.“ Die Augen verneinen und verweisen auf Seegang eins. In jedem Kinderplanschbecken ist mehr los. Das Gehirn brüllt wie der KaLeu in „Das Boot“: „Meldungen! Ich verlange anständige Meldungen!“ Der Boden, die Flure beginnen zu schwanken, das Frühstück randaliert. Diagnose: Seekrankheit. Nach einem taumelnden Spurt in die Kabine und dem vorbeugenden Griff zur Tüte („CALM DOWN! FILL UP! BANG ON!“) schleppt sich „Johann, das Gespenst“ zur Rezeption. Man reicht das homöopathische Gegenmittel „Vertigo“, so heißt immerhin das europäische Plattenlabel von Metallica. Ganz wichtig: Viel essen und – mancher Metaller würde jetzt über Bord springen – nichts trinken. Nicht mal Wasser. „Das macht alles nur noch schlimmer.“
Die nächsten acht Stunden vergehen mit Pillen lutschen, Brötchen mümmeln und Deckspaziergängen wie auf rohen Eiern. Jede Schraubenbewegung überträgt sich in die Bauchhöhle, jedes Riff auf dem Pooldeck schlägt als Hammer auf den Kopf-Amboss wie im Anvil-Song „Metal On Metal“. Lärmempfindlichkeit: ein Hauptgewinn auf einer Full Metal Cruise. Dennoch fasziniert das Treiben unter der Sonne. In den prall gefüllten Whirlpools johlen Metalheads wie Seelöwen, wenn ein Stewart mit Dosenbier-Tabletts durch die Meute tänzelt. „Gib! Gib! Gib!“ Nur wenige unsichere Schritte weiter geben sich Marina (in einem Traum aus Schwarz) und Frank das Ja-Wort. Das Paar aus Bayern wurde als „härtestes Pärchen Deutschlands“ erfolgreich für die Bordhochzeit gecastet. Während vor dem Schott Van Canto alle Regler hochschiebt wie ein Pilot den Schubregler beim Durchstarten, singt Düsseldorfs Metal-Queen Doro Pesch dem Brautpaar ein romantisches „Für immer“.
Gegen Mitternacht pustet ein Parforceritt der Thüringer Metalcore-Wüteriche Heaven Shall Burn den Rest Reisekrankheit weg. Nach einem „Das Boot“-Intro heißt es dreimal Wahnsinnige voraus mit bewährten Dreschern. Sänger Marcus Bischof dirigiert das Inferno und Poseidon, der Lutscher, kann einen mal. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht spendet Doro Pesch Trost: „Auf der ,70.000 Tons of Metal‘ war ich auch seekrank und kann das gut nachfühlen. 24 Stunden nur gebrochen. Gott sei Dank musste ich erst am nächsten Tag spielen.“
Dieses Mal hat sie Glück, ein brechend volles Set im Casino ist der Lohn.
Aber ist das alles noch Heavy Metal? Mangoschaum-Kaltschale als Vorspeise und Sackpfeifen-Rock von In Extremo zum Nachtisch? „Natürlich ist das Metal“, sagt Kevin aus Luzern, der sich mit drei Freundinnen eine Innenkabine teilt. Die vier Schweizer gehören zu den internationalen zehn Prozent der Fahrgäste. „Alter und Bandvorlieben spielen hier keine große Rolle, man verbringt eine gute Zeit. So wie auf jedem anderen Festival.“ Er würde wieder einsteigen, so wie eigentlich alle, die man fragt. Manche wünschen sich mehr Metal für jüngere Semester und weniger Rahmenprogramm und „Schlagerbands wie Santiano“, mehr ausländische Gäste und mehr Frauen (sie machen ein Drittel der Passagierliste aus). Aber ansonsten gilt: Metal ist, wo der Metaller ist, und auf der „Mein Schiff 1“ stehen sie auf 260 Meter Stahl.
Nach vier Tagen geht es in Le Havre von Bord, nach der härtesten, lautesten und anstrengendsten aller erlebten Reisen. 2000 Metaller und 800 Crewmitglieder fahren aber noch weiter. „Metal On Metal“. Das muss das Boot abkönnen.
Der Autor reiste mit Unterstützung von TUI Cruises