Sie arbeiteten mit Tricks, hatten ein riesiges Informanten-Netzwerk und sensationellen Erfolg: Jetzt ist das Städtealbum von Braun und Hogenberg in einer prachtvollen Reprint-Ausgabe neu erschienen.

Hamburg. Die globale Lust am Blick von oben, an Überblick und Orientierung, am Begreifen, wie unsere Welt zusammenhängt, aber auch am neugierigen Blick in Nachbars Hinterhof wird seit 2004 durch die Software und Datenbank von Google Earth befriedigt - von jedem Internet-PC aus ist jeder Punkt der Erde aus der Satellitenperspektive anzoombar: mein weißer Balkontisch und der Markusplatz in Venedig, das Eiscafe an der Hoheluftchaussee und Huangshan, das Gelbe Gebirge in China.

Wie war das eigentlich früher? Landkarten gibt es, in unterschiedlicher Präzision, seit der Steinzeit. Genaue Abbildungen der bekannten Welt tauchen erst auf, als die Menschen in Europa um 1500 anfangen, die Erde zu entdecken. Die rapide Entwicklung der Reproduktionstechnik für Schrift (Buchdruck) und Bild (Kupferstich, Radierung) machen es möglich, dieses Interesse zu befriedigen. Städtebücher tauchen ab 1486 auf, mit Abbildungen und Kommentaren.

1572 aber kommt in Köln ein Werk heraus, das alle bisherigen in den Schatten stellt: Der Privatlehrer Georg Braun und der in Antwerpen und England ausgebildete Kupferstecher Franz Hogenberg bringen den ersten Band von "Civitates orbis terrarum" (dt.: Städte der Welt) auf den Markt. Jetzt ist es als prachtvolle Reprint-Ausgabe neu erschienen. Es ist ein großformatiges Buch, das Ansichten und Pläne bekannter und kleinerer Städte zwischen London und Konstantinopel, Mexiko und Kalkutta, Kairo und Amsterdam versammelt.

Die Schaulust ihrer Mitbürger und deren eingeschränkte Reisemöglichkeiten machen das Buch zum Bestseller - der lateinischen folgt eine deutsche und eine französische Ausgabe, dem ersten bis 1617 fünf weitere Bände, alle erleben viele Auflagen.

Das Risiko der Herausgeber hat sich gelohnt. Sie haben es aber auch vorher schon schlau verringert: Sie nutzen ein geniales Netzwerk von an die 100 Informanten. Sie werben sogar um interaktives Verhalten: Wer seine Stadt vermisst, soll ihnen eine aktuelle Zeichnung schicken - für den nächsten Band. Sie sammeln ähnliche, aber regional beschränkte Bücher, bekommen Skizzen und Zeichnungen oder - wie vom dänischen Statthalter in Schleswig und Holstein, Heinrich von Rantzau - fertige Kupferstich-Platten.

Braun/Hogenberg bedienen sich, verändern Vorlagen, montieren Szenen aus anderen Büchern in ihre Stadtbilder. Aus einem Buch des weit gereisten belgischen Kartografen Jacob van Deventer, der als amtlicher Vermesser Stadtpläne herstellte, entsteht die Idee, eine Stadt - zum Beispiel Hamburg - aus der Vogelperspektive darzustellen. Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass damals die höchsten Aussichtspunkte die Kirchtürme sind. Dass erst am 24. August 1786 ein Ballonfahrer, Jean-Pierre Blanchard, Hamburg wirklich von oben sehen kann. Und dass 1903 Brieftauben mit festgeschnallten Minikameras erste Luftbilder machen.

Die 365 farbigen Abbildungen von Braun/Hogenberg sind aber mehr als nur Ansichtskarten oder Kartografie: Es finden sich darauf Menschen in zeitgenössischer Mode, Handwerke, Ackerbau und Gerichtsbarkeit, Handel und Krieg. Der Kupferstecher Georg Hoefnagel trägt vieles aus eigenem Reiseerleben bei; von ihm stammen realistische Ansichten und sogar ein Reportagebild: der Brand des Dogenplastes in Venedig 1577 - mit dem stolzen Hinweis: "gemalt von Georg Hoefnagel, der es selbst sah".

Ein Riesenwerk wie die "Civitates" gab auch Gelegenheit zu Fehlern: Wismar trifft es hart. Nicht nur wird der Name mit dem von Rostock vertauscht, die Stadt wird dazu mit einer schrecklichen Mordgeschichte in Verbindung gebracht. Der Bürgermeister und Heinrich von Rantzau sorgen sich um Wismars Image und beschweren sich offenbar - bald gibt es einen prächtigen Stich mit lobendem Kommentar.

Fast 200 Jahre hat das sechsbändige Werk die Bilder geprägt, die sie sich die Europäer von ihren Städten gemacht haben - und von denen, zu denen sie nie reisen konnten. Die pure Schaulust fachte die Fantasie an: Wie es wohl wäre, Elefanten zu sehen, Pyramiden, Indianer, Kamele, die Hauptstädte der Welt - unbehelligt vom Laster und den Verbrechen, die dort wohnen? Genauso funktioniert Google Earth: von Hamburg nach Haiti, zum Vesuv, nach Bagdad oder ins Erdbebengebiet von Sechuan und zurück, fasziniert von der Allmacht des sicheren Betrachters.


Braun/Hogenberg: Städte der Welt. Hg.: Stephan Füssel. Vorwort: Rem Koolhaas. Großformat, 504 Seiten, 150 Euro.