Mit einer Rede über den „ersten kosmopolitischen Autor der deutsche Sprache“ eröffnete Ilija Trojanow die Hamburger Lessing-Tage.
Hamburg. „Ein Titel muss kein Küchenzettel sein. Je weniger er vom Inhalt verrät, umso besser“, erklärte Thalia-Intendant Joachim Lux am Sonntag zum Auftakt der ersten Lessingtage – und bewies nicht zuletzt mit der Wahl seines Eröffnungsredners, wie geschickt sich dennoch theatrale und gesellschaftliche Gegenwart mit der Literaturgeschichte verknüpfen lassen und so einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnen: „Und auf einmal erweist sich der angeblich altbackene Gotthold Ephraim Lessing als Denker von prägnanter Aktualität.“
+++ DIE REDE VON ILIJA TROJANOW IM WORTLAUT +++
+++ KULTURVERANSTALTUNGEN IM NORDEN IM JAHR 2010 +++
Wie wahr. Mit einer Rede über den „ersten kosmopolitischen Autor der deutsche Sprache“ eröffnete Autor und „Weltensammler“ Ilija Trojanow das neue Festival, dem Kultursenatorin Karin von Welck sogleich eine Zukunft als „Fixstern im Hamburger Kalendarium“ voraussagte.
Trojanow thematisierte die Differenzen zwischen den Religionen, um beim kenntnisreichen Gang durch die Literaturgeschichte deren gemeinsame Wurzeln aufzudecken. An der Ring-Parabel, der zentralen und bekanntesten Passage aus Lessings „Nathan der Weise“, deckte er die Bezüge zu arabischen, indischen und jüdischen Quellen auf und entdeckte im „naiv erscheinenden Märchen“ Parallelen zur geschichtlichen Realität und Gegenwart: „Wenn wie in diesen Tagen in diskursiven Ritterspielen die Lanzen für und gegen Aufklärung oder Glaube, Toleranz oder Selbstbehauptung, Freiheit oder Krieg gebrochen werden, ist es an der Zeit, sich des ersten kosmopolitischen Autors deutscher Sprache zu besinnen, der nicht nur ein Freund Moses Mendelssohns, sondern auch am Islam interessiert war.“
Lessings Ringparabel, so Trojanow weiter, biete auf den ersten Blick „nicht mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner einer vermeintlich toleranten, säkularen Gesellschaft“, habe aber akute Bezüge zur Gegenwart. Er erinnerte an Margot Käßmanns Plädoyer für einen Abzug aus Afghanistan: „Wird nicht eine Bischöfin, die an die Friedensethik als Teil einer Tradition gemahnt, die von allen Rednern alltäglich im Mund geführt wird wie ein rachenputzendes Lutschbonbon, öffentlich gekreuzigt, als habe sie zum Kannibalismus aufgerufen?“ Auch „die zentralen Fundamente einer zivilisierten Gesellschaft“ müssten „in jeder Generation zu neuer Selbstverständlichkeit gebracht“ werden.
„Wir sollten nicht vergessen“, mahnte Trojanow, „dass es auch zum Programm der Aufklärung gehörte, der seit den Kreuzzügen virulenten Dämonisierung des Islams entgegenzutreten, was die Operettenaufklärer von heute nicht wahrhaben wollen.“ Trojanow erklärte sich überzeugt davon, „dass wir als Individuen, aber auch als Menschheit keine andere Wahl haben, als zu Kosmopoliten zu werden, wenn wir in der Globalität gedeihen und als Gemeinschaft auf diesem ausgelaugten Planeten überleben wollen.“ Wenn Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie“ erkläre: „In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere“, beschreibe er „auch die Realität unserer gegenwärtigen kulturellen Vernetzungen“: „War früher eine Weltsprache Utopie, so haben wir heute das Englische und ein gesteigertes Bewusstsein für universelle Grundregeln.“ Der goldene Satz „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ finde sich bei Konfuzius, bei Buddha, in altgriechischen Texten sowie im Neuen Testament – „ein universal-globales Prinzip jenseits aller Religionsgräben“.
Nicht zuletzt die gescheiterte Konferenz von Kopenhagen habe ein Bedürfnis zur „höheren Konsensfähigkeit“ offenbart: „Wer, wenn nicht Lessing, hat gesagt, dass des Menschen wichtigste Eigenschaft die Empathie ist.“ Ziel der Empathie sei es nicht, den anderen „auf Teufel komm raus verstehen zu müssen“, aber in kulturellen Differenzen ein wandelbares Potenzial zu erkennen: „Es grenzt an Wahnsinn, in der heutigen Welt die Ressource Vielfalt nicht kreativ zu nutzen.“
Trojanow zitierte, was Lessing in seiner Hamburger Zeit schrieb: „Lese jeden Tag etwas, was sonst niemand liest. Denke jeden Tag etwas, was sonst niemand denkt. Tue jeden Tag etwas, was sonst niemand albern genug wäre, zu tun. Es ist schlecht für den Geist, andauernd Teil der Einmütigkeit zu sein.“ Dass es auch eine Ironie der Geschichte ist, wenn die Lessingtage der Stadt einen großen Vordenker nun neu in Gedächtnis rufen, bewies Trojanow in seiner bestechenden Schlusspointe: Als der Dichter 1781 starb, verfügte der Hanseatische Senat, von seinem Ableben sei keine Notiz zu nehmen. „Kraft Amtes hat der Hamburger Rat somit die Unsterblichkeit des ungeliebten Theatermachers verfügt.“