Der Bestsellerautor Ilija Trojanow sprach zum Auftakt der Hamburger Lessing-Tage über kosmopolitische Kultur. Die Rede im Wortlaut.
Hamburg. 1977 kam der Film “Amar Akbar Anthony” in die indischen Kinos. Darin flüchtet ein ehemaliger Häftling vor einem Mafiaboß und überläßt seine Frau sowie die drei gemeinsamen Söhne ihrem Schicksal. Die Mutter erblindet, die Brüder werden ausgesetzt und von Fremden adoptiert, der erste von einem Hindu-Polizisten, der zweite von einem muslimischen Schneider und der dritte von einem katholischen Priester. Sie tragen die Namen der jeweiligen Tradition, ohne sich ihrer Herkunft bewußt zu sein. Der älteste Bruder namens Amar wird Polizist, der mittlere namens Akbar Sänger und der jüngste namens Anthony, gespielt von der Ikone des indischen Kinos, Amitabh Bachchan, ein Taugenichts, der gelegentlich das Gesetz reizt.
Sie ahnen es schon: auf verschlungenen Pfaden kreuzen sich die Lebenslinien der Brüder, sie helfen einander, sie singen zusammen ein Lied, sie besiegen den bösen Mafiaboß, sie erkennen sich als Brüder, sie finden zur Mutter zurück, der erneut Augenlicht und Söhne geschenkt werden. Die Familie ist wiedervereint, doch mit keiner Geste wird angedeutet, daß die Brüder ihr adoptiertes kulturelles und religiöses Selbstverständnis ablegen könnten, in keiner Szene führt ihre Differenz zu Konflikten. Die Handlung ist an hanebüchenen Zufällen kaum zu überbieten, und doch ist “Amar Akbar Anthony” ein moderner Filmklassiker, der regelmäßig auf einem der 101 Fernsehkanäle Indiens wiederholt wird. Auch wenn die Handlung unwahrscheinlich ist, so sind seine Ideale und Emotionen glaubhaft und bewegend.
21 Jahre später erzählt ein ähnlich angelegter Film ein ganz anders gelagertes Drama. In Mahesh Bhatts “Zakhm” lebt eine Witwe in Bombay mit ihren zwei Söhnen, Ajay, einem Sänger, und Anand, Aktivist einer rechtsextremen hinduistischen Organisation. Doch entgegen dem Anschein, die Familie sei hinduistischen Glaubens, sucht die Witwe von Zeit zu Zeit klammheimlich eine Moschee zum Gebet auf — sie ist von Haus aus Muslima, hat aber jahrelang in wilder Ehe mit einem Hindu gelebt und ihm versprochen, die Kinder nicht als Moslems aufzuziehen. Als im ganzen Land wegen der Zerstörung der Babri-Moschee durch Hindu-Fanatiker Unruhen ausbrechen, wird die Witwe, die ihren wahren Glauben so lange verheimlicht hat, Opfer ihrer wahren Religionszugehörigkeit. Fanatiker greifen sie auf der Straße an und zünden sie bei lebendigem Leib an. Mit 80-prozentigen Verbrennungen wird sie moribund ins Krankenhaus eingeliefert. Der ältere Sohn Ajay muß nun um ihr Andenken und gegen die Rachsucht seines Bruders kämpfen, der die Realität als Negativ wahrnimmt, überzeugt davon, seine Hindu-Mutter sei von Moslems ermordet worden.
Der Leichnam einer Frau, die ein religiöses Doppelleben führte, wird zum prototypischen Zankapfel. Die Fanatiker verlangen die Verbrennung des Leichnams, da die Frau als Hindu gelebt habe, der älteste Sohn will ihren letzten Wunsch erfüllen und sie begraben lassen. Die einstigen Ideale von „Amar Akbar Anthony“ sind in „Zakhm“ (was auf Hindi „Wunde“ bedeutet) zerbrochen, der Freiheit der individuellen Wandlung sind Handschellen angelegt worden. In den zwei Jahrzehnten dazwischen haben die Dogmatiker auf allen Seiten zu den Waffen gegriffen. Tribale Identitäten werden nunmehr auf Kosten eines feindlichen Anderen konstruiert und aggressiv verteidigt. Nicht nur in Indien, oder im Nahen Osten, sondern zunehmend auch bei uns. Und auf einmal erweist sich der angeblich altbackene Gottfried Ephraim Lessing als Denker von prägnanter Aktualität. Wenn wie in diesen Tagen in diskursiven Ritterspielen die Lanzen für und gegen Aufklärung oder Glaube, Toleranz oder Selbstbehauptung, Freiheit oder Krieg gebrochen werden, ist es an der Zeit, sich des ersten kosmopolitischen Autors deutscher Sprache zu besinnen, der nicht nur ein Freund Moses Mendelssohns sondern auch am Islam interessiert war (er übersetzte u.a. Voltaires Essays „Von dem Korane“ und „Geschichte der Kreuzzüge“), und der eine bedenkenswerte Parabel bei uns popularisierte.
Der Staub jahrhundertealter Binsenwahrheit liegt auf der Ringparabel. Sie ist übertüncht von dem Anstrich des Geläufigen, Allzugeläufigen. Auf den ersten Blick bietet sie nicht mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner einer vermeintlich toleranten, säkularen Gesellschaft. Aber galt das nicht auch für das Prinzip von Habeas corpus, das wir als gegeben und geschenkt erachteten, bis es ohne Not ausgehebelt wurde? Und wird nicht eine Bischöfin, die an die Friedensethik als Teil einer Tradition gemahnt, die von allen Rednern alltäglich im Mund geführt wird wie ein rachenputzendes Lutschbonbon, öffentlich gekreuzigt, als habe sie zum Kannibalismus aufgerufen? Auch das gute alte Lied muß halt immer wieder mit frischen Stimmen gesungen, die zentralen Fundamente einer zivilisierten Gesellschaft in jeder Generation zu neuer Selbstverständlichkeit gebracht werden. Genauer betrachtet offenbart die Ringparabel, wie auch „Nathan der Weise“ als Ganzes, eine profundere Haltung zu Vielfalt und Vermischung als unsere Erinnerung diesem Klassiker zugesteht. Nicht zuletzt wegen der Herkunft und Metamorphose einer Parabel, deren Genesis an vergessene kosmopolitische Realitäten erinnert und deren verschiedene Varianten den Mißbrauch jener kultureller und religiöser Differenz repräsentieren, die der Machtpolitik seit je als liebstes Werkzeug dient.
Welchen Ursprung hat nun also die Ringparabel? Lessing selbst gibt als Quelle Boccaccios „Decamerone“ an und zwar die dritte Erzählung des ersten Buches. Allerdings hat Boccaccio diese wie auch viele andere seiner Geschichten nicht selbst erfunden, sondern sich aus einem überaus reichen Reservoir an Fabeln, Parabeln und Allegorien bedient, das sich als narratives Grundwasser unter den Religionen und Kulturen ausstreckt, etwa die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“, die auf den altindischen Sammlungen „Vetala-pancavimsati“ („Die fünfundzwanzig Geschichten vom Vampir“),„Kathasarit-sogar“ („Ozean der Flüsse von Geschichten“) und „Panchatantra“ basieren. So stammt die zweite Geschichte des zweiten Tages, in der Rinaldo seinen Besitz verliert und wiedererlangt, aus dem Fabelbuch „Panchatantra“, ebenso die zweite Geschichte des dritten Tages, in der König Agilulf taktvoll versucht, es mit dem Stallburschen aufzunehmen, der seine königliche Ehefrau verführt hat, eine charmante Erzählung, die heute noch in ganz Indien beliebt ist.
Die fünfte Geschichte des dritten Tages über Zima, der die Liebe einer verheirateten Frau mit List und einem schönen Pferd gewinnt, stammt aus dem „Hitopadesha“ („Anweisung für das Wohlbefinden“). Von dort ging sie ein in eine Sammlung mit dem Titel „Die Geschichten von Sindbad dem Seefahrer“, die zu Zeiten Boccaccios in einer lateinischen Version weit verbreitet war. Die neunte Geschichte des dritten Tages über verworrene Liebe zwischen Gillette und Bertrand beruht auf einem der bedeutendsten Dramen des Sanskrit, Kalidasas „Shakuntala“ (das übrigens Goethes Wohlwollen fand), damals in einer französischen Version aus dem 11. Jahrhundert in Umlauf.
Boccaccios Verfahren war keineswegs einmalig. Im Mittelalter gedieh der Import von Mythen und Legenden. Auch jüdische Autoren beteiligten sich an der Verbreitung orientalischer Geschichten, etwa indem sie arabische Sammlungen ins Hebräische und daraus weiter ins Lateinische übersetzten. So floß das „Panchatantra“ durchs Arabische und Hebräische, bevor es im 12. Jahrhundert Johannes von Capuas „Directorium humane vitae“ („Anleitung für das menschliche Leben“) nährte, eine berühmte Anthologie moralischer Geschichten. Die Verbreitung der Ringparabel nahm einen ähnlichen Weg; sie taucht als jüdische Erzählung in al-Andalus auf, wird ins Lateinische übertragen und gewinnt einige Jahrhunderte später nach dem Ende der Reconquista an Bedeutung, als das vereinte christliche Spanien nichts Dringlicheres zu vollbringen hatte als die Vertreibung aller Juden. Salomo ben Jehuda Ibn Verga, sephardischer Flüchtling und Chronist der Verfolgungen, führt das Gleichnis als Argument gegenüber einem christlichen König an, die jüdische Minderheit nicht zu verfolgen.
Die Parabel war nicht nur in das „Decamerone“, sondern auch in die „Gesta Romanorum“ gewandert, jene Exempelsammlung des 14. Jahrhunderts, die so gänzlich falsch benannt ist, denn es finden sich darin keineswegs nur die „Taten der Römer“, sondern Geschichten aus allen Herren Ländern. Es ist die erste weltläufige Anthologie, ein Füllhorn an Themen und Geschichten, antike Stoffe stehen neben alttestamentarischen, christlichen Legenden neben Volkschwänken. Ein Fundus, der ganze Heerscharen europäischer Autoren inspirierte und Handlungselemente für die Dramen Shakespeares und Marlowes lieferte. Der Großteil der „Gesta Romanorum“ basiert auf der Sammelarbeit eines Mannes, der zu den dramatis personae von „Nathan der Weise“ gehören könnte, einem zum christlichen Glauben konvertierten Juden namens Petrus Alfonsi.
1066 in al-Andalus geboren, zog er nach seiner Konversion in den Norden, zuerst in die Normandie und dann nach England. Als Leibarzt von Heinrich I. und dessen wichtigster Gelehrter bei Hof, erlangte er durch Publikationen zu einer Vielzahl von Themen literarischen Ruhm. Nur eines seiner Bücher ist uns noch bekannt, das einzige, das nicht der Belehrung, sondern der Unterhaltung diente. Die „Disciplina Clericalis“ („Unterweisung für Kleriker“), 1115 fertiggestellt, ist eine Sammlung von 34 Geschichten, die er aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt hatte: eine kleine, repräsentative Auswahl aus der Erzähltradition von al-Andalus, so beeindruckend, daß sie Generationen von Lesern und Zuhörern im christlichen Europa begeisterte. Die „Disciplina“ ist die erste Sammlung von Erzählungen in der lateinischen Literatur des Mittelalters. Die kosmopolitische Pointe dieser Anthologie besteht darin, daß der Konvertit diejenigen, die ihn bekehrt hatten, für die Kultur, der er absichtlich den Rücken gekehrt hatte, begeistern konnte.
Aber die Ringparabel hat nicht nur viele Väter, sie entstammt zudem einem Ring an Geschichten, einem Reigen an Parabeln, denn die erwähnten Geschichtensammlungen funktionierten nach ein- und demselben dramaturgischen Prinzip: eine Rahmenhandlung umklammert die disparaten Teile. Auf diese Weise ordneten nun auch die ersten westeuropäischen Prosaisten ihr phantasievolles Material, Boccaccio sein „Decamerone“ und Chaucer die „Canterbury Tales“, die beiden einflußreichsten Prosawerke der Renaissance. Wenn also Lessing dieses Verfahren ebenfalls verwendet, wenn sich bei dem Konflikt zwischen Saladin und Nathan eine Falltür zu einer anderen Geschichte öffnet, bedient er sich einer gemeinsamen Erzähltradition, und es stellt sich nicht nur die Frage, wer im Besitz der Wahrheit ist, also des einzig wahren Ringes, sondern auch, wer eigentlich erzählt: Lessing oder Boccaccio, Nathan der Weise oder die schöne Filomene aus der florentinischen Jeunesse dorée, Vishnu Sharman oder Scheherazade, ein höfischer Sanskritdichter oder ein jüdischer Gelehrter aus Córdoba. Und wenn sie alle miteinander die Parabel geschaffen haben, von der wir heute noch zehren, wenn sie über Jahrhunderte jenseits aller Grenzen unsere narrative Grundversorgung organisiert haben, wie ist es dann um die Deutungshoheit und das Wahrheitsmonopol bestellt?
Es ist gewiß kein Zufall, daß Lessing sich diese Geschichte ausgesucht und sie auf diese Weise erzählt hat, unabhängig davon, ob er sich der Historie des Motivs in allen ihren Aspekten bewußt war. Nein, Lessing schlägt eine Bresche für die Aufklärung, indem er den Spuren des Gemeinsamen, der Vermischungen folgt. Auffällig auch, daß die Ring- und Reigensammlungen stets säkularen Charakters waren. Verschachtelungen bekommen frommen, didaktischen Texten nicht, die Brechungen und die damit einhergehenden Verunsicherungen des Lesers meiden wie der Teufel das Weihwasser. In vielerlei Hinsicht mag die Bibel unser Vademekum gewesen sein, unser Umgang mit Erzählung und unsere literarischen Vorlieben verdanken wir ebensosehr dem „Panchatantra“ oder den „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“.
Lessing begnügt sich nicht mit einer Ringparabel, in der die drei abrahamitischen Religionen gleichberechtigt nebeneinanderstehen, er schmiedet zur Verdeutlichung, wie sehr die drei miteinander verflochten und verschmolzen sind, einen weiteren, einen dritten dramaturgischen Ring, nämlich jenen der Blutsbande, der familiären Zusammenhänge, ähnlich den eingangs beschriebenen Filmen “Amar Akbar Anthony” und “Zakhm”. Die Ziehtochter Recha des Juden Nathan heißt eigentlich Blanda von Filnek, und ist eine Christin (auch wenn ihr dies erst gegen Ende des Dramas enthüllt wird). Ihr Bruder, der junge Tempelherr Curd von Stauffen, dessen wahrer Name Leu von Filnek lautet, ist ebenfalls Christ. Der Vater der beiden war ein Moslem namens Assad, der Bruder Saladins, der sich später Wolf von Filnek nannte. Der Sultan ist somit Onkel einer Halb-Christin und Halb-Muslima, die in einem jüdischen Haushalt von einer Christin erzogen wird. Keiner außer Nathan ist der, der er zu sein scheint, aber wie bemerkt der Klosterbruder im Gespräch zu Nathan: „Doch was man ist, und was man sein muß in der Welt, das paßt ja wohl nicht immer.“
So unglaubwürdig und an den Haaren herbeigezogen klingt diese Anordnung, man kann sie nur rezipieren als Illustrierung einer zentralen Position kosmopolitischen Denkens, daß wir die Frucht eines vielfältigen, komplexen und unentwirrbaren Wurzelwerks sind. Christentum und Islam sind durch Abstammung einander verwandt, das Judentum in Gestalt Nathans, der sowohl Recha als Säugling an Kindes Statt annahm, als auch im großen Finale ihren Bruder an sein Herz zieht, durch geistige Nähe, durch väterliche Freundschaft, auch wenn Lessing das Judentum nicht zum Blutsverwandten macht. Da muß dann ein Ausspruch des Klosterbruders die Brücke bilden: „Und ist denn nicht das ganze Christentum aufs Judentum gebaut?
Es hat mich oft geärgert, hat mich Tränen genug gekostet, wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, daß unser Herr selbst ein Jude war.“ Diese Wahrheit haben wir inzwischen, nach dem Holocaust und neunzehn Jahrhunderten der Judenverfolgung, akzeptiert. Die andere Verwandtschaft leugnen wir momentan eifrig. Doch Lessingwürde heute auf einer judeo-christlich-islamischen Tradition beharren, und das würde die Gralshüter des essentiellen Geistes auf die Palme bringen. Bittet doch schon in „Nathan“ Rechas Erzieherin für ihren Schützling: „Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn, in dem sich Jud‘ und Christ und Muselmann vereinigen; - so einen süßen Wahn.“ Und wer die Verwandtschaftsirrungen und -wirrungen in „Nathan der Weise“ übertrieben konstruiert findet, der bedenke folgendes Beispiel, zu dem wir ebenfalls über Boccaccio gelangen: In der ersten Geschichte des fünften Tages gelingt es zwei jungen Zyprioten gegen alle Widrigkeiten ihre Geliebten für sich zu gewinnen. Diese beiden Helden stammen aus „Barlaam und Josaphat“, einer griechisch-christlichen Biographie Buddhas samt Legenden über seine früheren Leben. Diese Geschichten wurden so beliebt, daß Josaphat (eine Verballhornung von Bodhisattva) im 14. Jahrhundert kanonisiert und seitdem als Heiliger der katholischen Kirche verehrt wird, ebenso wie Barlaam, dessen Name von dem Sanskritwort Bhagvan abgeleitet ist, dem ersten Beinamen Buddhas (eigentlich wird in dieser Version behauptet, daß Buddha Siddharta, also sich selbst, zur Erleuchtung geführt hat, und zwar als Christ!). Gewinnt die Ringparabel nicht an Glaubwürdigkeit, wenn man sich bewußt macht, daß ein Christ, der am 27. November, dem St.-Josaphat-Tag, des Heiligen gedenkt, gleichzeitig die Gnade Buddhas erbittet?
Leider war Alfonsis „Unterweisung für Kleriker“ nicht sein einziges Werk, mit dem er der Zukunft seinen Stempel aufdrückte. Seine Schmähschrift „Dialog gegen die Juden“ war noch lange nach seinem Tod im Umlauf. Der Titel ist irreführend, denn es handelt sich nicht um einen Dialog, sondern um eine Polemik gegen das Judentum und den Islam. So kenntnisreich das Werk auch die Glaubensgrundsätze beider Religionen darstellt, so erbittert geht es mit ihnen ins Gericht. Später diente es der antijüdischen und antimuslimischen Propaganda als wichtige Quelle von hoher Autorität, da ihr Verfasser ein zum Christentum konvertierter Jude war, also das Licht der Kirche erblickt und so den Fehler seiner Geburt wiedergutgemacht hatte. In der ambivalenten Gestalt des Petrus Alfonsi treffen zwei ideengeschichtliche Stränge aufeinander, die Europa noch maßgeblich formen sollten: der wunderbare Reichtum der säkularen Erzählung auf der einen Seite und das dämonische Vermächtnis des Antisemitismus und Antiislamismus auf der anderen.
Diese Ambivalenz ist sichtbar in der Version der Ringparabel aus der „Gesta Romanorum“: hier gelten die drei Ringe nicht als gleichwertig, sondern es existiert der eine gute, wahre, schöne Echte – die anderen zwei erweisen sich als Fälschungen. Es kann nur eine wahre Religion geben, die beiden anderen müssen Betrüger sein. Und selbstverständlich ging man im mittelalterlichen Abendland davon aus, bei der einzig wahren Religion könne es sich nur um die christliche handeln. Welchen Aufruhr verursachte die angebliche Aussage Kaiser Friedrichs II. anno 1239, alle Welt sei hintergangen worden von den drei Betrügern Jesus Christus, Moses und Mohammed. Ob nun dieser Ausspruch nun so fiel oder nicht, er zog die sofortige Bannbulle Papst Gregors IX. nach sich und ein paar Jahrhundert später die anonym erschienenen Traktate „De tribus impostoribus“ - Bücher, in denen ebenfalls alle drei monotheistischen Religionsstifter des Betrugs geziehen werden. Lessing verquickt Ringparabel und Betrügertopos in dem Satz: „So seid ihr alle drei betrogene Betrüger, der rechte Ring vermutlich ging verloren.“ Daraus läßt sich auf Lessings eigene Überzeugungen schließen, die zuletzt maßgeblich geprägt waren von Spinoza und dessen freigläubiger Metaphysik, dem Glauben an eine alles durchwirkende Kraft.
Wir sollten nicht vergessen, daß es auch zum Programm der Aufklärung gehörte, der seit den Kreuzzügen virulenten Dämonisierung des Islams entgegenzutreten, was die Operettenaufklärer von heute nicht wahrhaben wollen, die in unseren aus allen Regalen platzenden Einkaufszentren Moritaten vom Untergang des Abendlandes krächzen. Das Wissen über ferne Kulturen vertiefte sich, die Kenntnisse über die Vielfalt und Differenz auf einem Globus, dem man nach Belieben wenden und drehen konnte, auch wenn er noch weiße Flecken aufwies, nahmen zu. Zugleich verlangte der wissenschaftliche Geist eine Eingliederung dieser Erkenntnisse in ein universelles Weltbild. Autoren wie Voltaire stellten kulturvergleichende Überlegungen an, die nicht von der Unterlegenheit des Anderen ausgingen. So erträumte sich Wieland, Freund und Mitstreiter Lessings: „Die Kosmopoliten betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als ein Staat, worin sie mit unzähligen anderen vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, in dem jedes nach seiner besonderen Art und Weise für einen eigenen Wohlstand geschäftig ist.“ (aus: „Das Geheimniß des Kosmopolitenordens“)
Das 18. Jahrhundert war in vielem progressiver als das ihm nachfolgende, in dem die machtpolitischen Anforderungen an eine imperiale Ideologie und die Übertragung des Darwinismus auf das Soziale und Kulturelle zu einem hierarchischen Kulturentwicklungsmodell führten, gemäß welchem die westeuropäische Kultur eine derartig hohe Entwicklungsstufe erreicht habe, daß alle anderen ihr unterlegen waren. Je nach Gusto wurde aber auch das Fremde, das reiz- und wertvoll erschien, der eigenen Kultur einverleibt und als Ureigenstes ausgegeben – oder wie es Nathan gegenüber dem Klosterbruder formuliert: „Denn was mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden!“ Als ausgetüftelte Systeme, die überall und jederzeit gelten sollten, behaupteten die imperialen Dogmen und Ideologien eine falsche Universalität. Der Tempelherr aus „Nathan“ bringt es auf den Punkt: „Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen für den erträglicheren zu halten.“ Wann immer das Eine als universelle Wahrheit Gültigkeit beansprucht, widerspricht es der Wahrheit des Vielfältigen.
All das mag ja zutreffend beschrieben sein, aber was hat es mit der Gegenwart zu tun, könnte man einwenden, wie es so häufig geschieht, wenn einem die Lehren der Geschichte mißfallen. Sehr viel, denn ich bin fest davon überzeugt, daß wir als Individuen aber auch als Menschheit keine andere Wahl haben als zu Kosmopoliten zu werden, wenn wir in der Globalität gedeihen und als Gemeinschaft auf diesem ausgelaugten Planeten überleben wollen. Vieles von dem was Visionäre wie Lessing idealistisch postulierten, deckt sich inzwischen mit unserer Erfahrung und Weltkenntnis. Wenn Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie“ erklärt: „In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere“, beschreibt er nicht nur eine naturwissenschaftliche Tatsache, sondern auch die Realität unserer gegenwärtigen kulturellen Vernetzungen. Galt früher, daß alles mit allem in Verbindung stehen könnte, so wissen wir heute aus eigener Anschauung, daß nicht nur alles mit allem in Verbindung gebracht wird, sondern auch steht. War früher eine Weltsprache Utopie, so haben wir heute das Englische und ein gesteigertes Bewußtsein für universelle Grundregeln. Wir wissen inzwischen, daß der goldene Satz „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ sich bei Konfuzius und in der „Mahabharata“, bei Buddha und im Zoroastrismus, in altgriechischen Texten ebenso wie im Neuen Testament findet – ein universal-globales Prinzip, das sich jenseits aller Religionsgräben findet. „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch?“ fragte so auch Nathan. Und als letztes Jahr auf Anregung von Karen Armstrong eine „Charta des Mitgefühls“ interaktiv im Internet ausgearbeitet wurde, einigte man sich auf folgende Formulierung: „Das Prinzip des Mitgefühls liegt allen Religionen, ethischen und spirituellen Traditionen zugrunde und ruft uns, immer alle anderen so zu behandeln, wie wir selbst behandelt zu werden wünschen.“
Gewiß leben wir in Vielsprachigkeit, selbst wenn wir einsprachig agieren. Gewiß ist unser Denken und Schaffen zunehmend migratorisch und immer weniger territorial. Und gewiß werden wir einander zwar nicht gleicher, aber zunehmend verständlicher. Die erträumten Universalien von einst gehören zu unserem globalen Wortschatz. All das erscheint manchen als Chance, anderen als existentielle Bedrohung. Wie Edouard Glissant schreibt: „In der weltweiten Begegnung der Kulturen, die wir als Chaos erleben, scheinen uns die Anhaltspunkte verloren gegangen zu sein. Wo wir auch hinschauen, nur Katastrophen und Agonie. Wir verzweifeln angesichts dieser Chaos-Welt. Aber der Grund dafür ist, daß wir immer noch versuchen, sie an einer souveränen Ordnung zu messen, die ein weiteres Mal danach strebte, das Welt-Ganze zu einer beschränkten Einheit zu führen. Das Chaos ist schön, wenn man alle seine Bestandteile als gleich notwendig erachtet.“ Deswegen brauchen wir ein nicht-systematisches, intuitives, paradoxes, fragmentarisches, zwiespältiges Denken, denn nur dieses wird der Komplexität und Vielfalt der Welt, in der wir leben, gerecht.
Der kosmopolitische Bürger sollte für diese Aufgabe, allein schon aus etymologischen Gründen, gerüstet sein. Als Kosmopolit gehört er der größtmöglichen polis an, dem Universum und widerspricht der konventionellen Überzeugung, der einzelne gehöre einer bestimmten Gemeinschaft unter den vielen auf Erden an, ihr und nur ihr allein. Als Bürger gehörte er aber durchaus einer bestimmten Burg an, verteidigte sie einst, bewohnte sie dann bzw. lebte in ihrem Schatten in der Stadt. Im „kosmopolitischen Bürger“ finden das Globale und das Lokale als zwei Seiten einer Medaille zusammen. Die Lage ist keineswegs so grimmig, wie uns jene einreden wollen, die im Saft ihrer düsteren Erwartungen schmoren. Der Fundus an kulturellen Universalien wächst, ohne daß wir deswegen unbedingt alle gleich werden. Die freie All-Welt-Kulturschaft (Glissant) funktioniert erheblich besser als die freie Weltwirtschaft, doch merkwürdigerweise schreien gerade die Verfechter der entfesselten Finanz- und Handelsströme nach Protektionismus in der Kultur, um sie zu schützen vor der Fremde, sie in einer Nische zu konservieren. Dieser Kulturkonservatismus ist weltfremd. Er begreift nicht die Dynamik von Verschmelzung und Vermischung, die stets zu kultureller Neuerung führen, und er bildet sich ein, man könne einen Wall gegen das Fremde errichten. Mehr als je zuvor werden Traditionen nach freiem Gutdünken ausgewählt oder neu erfunden. Das Unvorsehbare ist zu einer entscheidenden Kategorie der dynamischen Vernetzungen geworden.
Ein wunderbares Beispiel kosmopolitischer Wertigkeit wird von dem amerikanischen Publizisten Malcolm Gladwell in seinem jüngsten Buch „The Outliers“ beschrieben, eine parabelhafte Geschichte von Kultur, Kommunikation, Tradition und Überleben. Jahrzehntelang hatte die Fluggesellschaft Korean Air eine der höchsten Unfallraten weltweit, 17-mal höher etwa als etwa United Airlines. Das galt als Rätsel, denn der aufstrebende Tigerstaat Südkorea investierte in neue Flugzeuge, die Wartung entsprach höchsten Anforderungen, ebenso die technische Ausbildung der Piloten. Das Problem wäre früher gelöst worden, wenn der Vorstand von Korean Air Lessing gelesen hätte: „Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? [...] Wie kann ich meinen Vätern weniger, als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht zu widersprechen? Oder umgekehrt.“ So spricht Nathan zu Saladin, und so erklärt auch Gladwell die Gründe für die Katastrophenanfälligkeit der Südkoreaner: Traditionsbewußtsein und mangelnde Flexibilität in einer Kultur starrer Autorität und Hierarchie. Der Anthropologe Geert Hofstede, führender Spezialist für innerkulturelle Dimensionen, entwickelte zur Messung dieses Phänomens einen sogenannten Power-Distance-Index. Südkorea als Land, in dem Autorität nicht hinterfragt und Macht demonstrativ ausgespielt wird, stand auf diesem Index weltweit an zweiter Stelle.
Die Kopiloten und Flugingenieure trauten sich in Gefahrenmomenten nicht, gegen die eigenen Konventionen zu verstoßen. Als sie beim Anflug auf Guam hätten energisch eingreifen müssen: „Kollege, wir fliegen direkt auf einen Hügel zu und werden in zwei Minuten aufprallen“, äußerten sie statt dessen „Herr Kapitän, der Wetterradar hat uns bislang oft geholfen“, ein verklausuliert untertäniger Hinweis auf die besorgniserregende Anzeige der Instrumente. Der machterfüllte aber übermüdete Pilot überhörte die Warnung, das Flugzeug zerschellte zwei Minuten später am Hügel. Erst als im Jahre 2000 Korean Air einen amerikanischen Außenseiter namens David Greenberg als Verantwortlichen für die Flugoperationen anstellte, wurde das Problem gelöst. Greenberg verschaffte den Piloten eine zweite Identität jenseits der erdrückenden Hierarchie, indem er verfügte, daß nur fliegen dürfe, wer Englisch beherrsche und in den Cockpits nur Englisch gesprochen werden dürfe. Mit der fremden Sprache brachen die Konventionen auf, ein informeller, familiärer, direkterer Stil, der sich aus einem anderen kulturellen Vermächtnis speiste, breitete sich aus. Der fremde Chef zwang die Koreaner, sich mit den Schwächen ihres eigenen Vermächtnisses auseinanderzusetzen, ohne dieses zu verteufeln oder gar abschaffen zu wollen. Er errichtete eine zweite Ebene, auf der die sonstige Untertänigkeit aufgehoben war. Die südkoreanischen Piloten wandelten sich so schnell, daß Korean Airlines heute zu den sichersten Fluggesellschaften der Welt gehört. Aber dazu war ein kosmopolitischer Blick vonnöten. Die Südkoreaner selber konnten den eigenen Treu und Glauben nicht in Zweifel ziehen.
Da wir glücklicherweise nicht zur einstigen Ignoranz und Borniertheit regredieren können, müssen wir zum Verstehen voranschreiten. Und dieses Verstehen ist angesichts der Herausforderungen der Zukunft überlebensnotwendig. Die gescheiterte Konferenz von Kopenhagen hat gezeigt, daß wir eine höhere Konsensfähigkeit entwickeln müssen. Und wer, wenn nicht Lessing, hat gesagt, daß des Menschen wichtigste Eigenschaft die Empathie ist, denn „ohne Zweifel derjenige der beste Mensch ist, der die größte Fertigkeit im Mitleiden hat.“
Ziel der Empathie ist es nicht, den Anderen auf Teufel komm raus verstehen zu müssen, denn dies bedeutete, ihm durch das Prisma der eigenen Wahrnehmung eine falsche Transparenz aufzudrücken, ihn zu reduzieren und somit zu erniedrigen. Es beinhaltet aber sehr wohl, kulturelle Differenzen nicht zu verabsolutieren, sondern in ihnen ein wandelbares Potential zu erkennen. Es grenzt an Wahnsinn, in der heutigen Welt die Ressource Vielfalt nicht kreativ zu nutzen.
Ich bin dem Thalia Theater sehr dankbar, daß es mich zur Beschäftigung mit Lessing angeregt hat. So durfte ich einen Giganten des Geistes entdecken, der bei herrschender Glutsonne einen tröstlichen und ermutigenden Schatten wirft. „Lese jeden Tag etwas, was sonst niemand liest. Denke jeden Tag etwas, was sonst niemand denkt. Tue jeden Tag etwas, was sonst niemand albern genug wäre, zu tun. Es ist schlecht für den Geist, andauernd Teil der Einmütigkeit zu sein.“ Diese Zeilen schrieb Lessing in Hamburg. Als er im Jahre 1781 starb, verfügte der Hanseatische Senat, von Lessings Ableben sei keine Notiz zu nehmen. Kraft Amtes hat der Hamburger Rat somit die Unsterblichkeit des ungeliebten Theatermachers verfügt.