Klavier spielen zu können ist ein Kinderspiel gegen die Kunst, ein Klavier zu reparieren: Georges Ammann beherrscht sie wie kaum ein Zweiter.
Georges Ammann als Klavierstimmer zu bezeichnen wäre nicht verkehrt. Aber es wäre gleichzeitig eine Untertreibung, vielleicht sogar schon eine Beleidigung, die zu einer - diskret verschwiegenen - Verstimmung bei ihm führen könnte. Denn wenn die sehr Guten seiner Zunft so etwas wie Kardinäle sind, dann ist der dauerfreundliche Schweizer Georges Ammann ihr Papst. So kategorisch wurde er jedenfalls von denen beschrieben, die ihn bei der Arbeit erlebt haben.
Ammann ist einer der sehr wenigen Klaviertechniker, dem die Virtuosen blind vertrauen. Weil sie erst spüren und dann hören, dass er der Richtige für sie und ihr Instrument ist, wenn der Moment des Auftritts naht, die gewünschten Klangfarben verblassen und Nerven zu flattern beginnen. Ammann ist der Mann, der in Konzertsälen und Plattenstudios in aller Welt mit Fingerspitzengefühl und der Präzision eines eidgenössischen Uhrwerks Fehler korrigiert, von denen andere noch nicht mal ahnen, dass es sie gibt. Und erst recht nicht, wie man sie dem Flügel wieder austreibt. Ammann ist aber auch der Mann, der am Ende eines Konzerts nie den Applaus erhält, den er verdient hätte.
In regelmäßigen Abständen kommt der Schweizer nach Hamburg, um hier, bei Steinway & Sons am Rondenbarg, bei einer zweiwöchigen Akademie kleine Portionen seines Wissensvorsprungs an Kollegen weiterzugeben.
Die Luft ist sehr dünn auf dem Niveau, auf dem Ammann arbeitet. Weltweit gibt es vielleicht noch ein knappes Dutzend wie ihn, schätzt Ammann. Mit Alfred Brendel, der vor einigen Monaten einen Schlussstrich unter seine Pianistenkarriere zog, verbindet Ammann eine lange Arbeitsbeziehung, ebenso mit Mitsuko Uchida. Doch nur sehr wenige Stars können und wollen sich diesen Luxus eines Technikers noch leisten, der ihnen auf Tourneen jeden Wunsch von den Fingern abliest.
Seit drei Jahrzehnten ist Ammann, der zunächst Klavier und Schulmusik studiert hatte, deswegen rund um den Globus unterwegs, im letzten Jahr hat er etwa 300 Nächte in Hotels verbracht. Für ganz akute Notfälle reicht dabei eine Portion Werkzeug, das in eine größere Aktentasche passt. Spezial-Instrumente transportiert er in einem Koffer - mit Liszt-Porträt im Innendeckel. Alles in allem kommt er auf rund 150 Kilo Ausrüstung. Und deswegen fliegt er, zumindest in Europa, auch nur selten, sondern legt enorme Strecken mit dem Auto zurück. Sein liebster Mitfahrer: Thomas Mann. Im Hörbuch-Format. Die "Buddenbrooks" könne er inzwischen auswendig mitsprechen, amüsiert er sich über das Ausmaß der eigenen Mann-Verehrung.
Die allergröbsten Dinge kann jemand wie Ammann schon in ein, zwei Stunden halbwegs einrenken. Wunder dauern länger und werden umso schwieriger, je älter das Instrument ist. Wobei Ammanns Arbeit sowieso schon komplex ist. Was er an einer Stelle einer Taste ändert, hat immer auch an anderen Auswirkungen. Will ein Pianist für zeitgenössische Musik vielleicht einen härteren, direkteren Klang, hat Ammann die Mechanik anders zu justieren als bei romantischem Repertoire, bei dem weichere Klangfarben angemessener sind. Vielleicht hilft dafür etwas Arbeit an den Filzen auf den Hämmern weiter, vielleicht aber auch, dass die Abstände der Hämmer zu den Saiten verändert werden. Das muss immer wieder neu entschieden werden, von Fall zu Fall, von Flügel zu Flügel. Die Tagesform ist entscheidend, auch beim Stimmer. Enorm vieles ist eine Mischung aus Geschmackssache und Erfahrung, alles ist Millimeterarbeit. Darin ist Ammann so gut wie kaum jemand sonst. Sicher könnte er auch Instrumente anderer Hersteller reparieren. Aber warum sollte ich, fragt sein Blick. Denn er ist ja nur vom Steinway-Klang überzeugt. Schwärmt von Farbigkeit und Klangtiefe. Was so klingt, muss Liebe sein.
Die Übergänge von mechanischem Können am Flügel zur Psychotherapie für den Künstler dürften in Ammanns Metier fließend sein, diplomatisches Gespür im Umgang mit den Musikern ist angebracht. Ammann erkennt mitunter schon an den Blessuren in der Mechanik, wer den jeweiligen Flügel zuletzt traktiert hat. "Am Hammerkopf kann man sehr viel ablesen. Es gibt Leute mit brutalem Anschlag, das hat was mit der alten russischen Schule zu tun." Namen? Lieber nicht. Der Techniker justiert und schweigt. Vielleicht ist es auch ein Hauch des Schweizer Bankgeheimnisses, das da mitschwingt.
Von Interpretationstipps für Pianisten lässt er die Finger, "das ist ihr Metier". Doch bei aller Geduld für Künstler und andere Kunden, es gibt Toleranzgrenzen für Ammann: "Auf einem sehr verstimmten Flügel kann ich nicht spielen, das ist wie ein ungemachtes Bett." An den eigenen Flügel, zu Hause in der Schweiz, an den darf auch niemand sonst ran. Kann man verstehen. Der private Musikgeschmack: Liszt, deswegen ja auch das Heiligenbildchen im Werkzeugkoffer, Schubert auch. Atonales eher nicht.
Ammanns Drang zur Perfektion, seine Suche nach stimmiger Harmonie, geht so weit, dass er bei Privatkunden grundsätzlich und wahrscheinlich auch streng wird, wenn er mitbekommt, dass ein Flügel schlecht behandelt wird oder nicht genau dort steht, wo er sein volles Potenzial entfalten kann. "Es gibt Leute, die haben völlig verwahrloste Flügel zu Hause", entfährt ihm da, fast schon persönlich beleidigt. "Ich hab schon viele Wohnzimmer umgestellt. Die blieben dann alle so." Der Tonfall ist eindeutig.
Zu Ammanns bevorzugten Arbeitsplätzen gehören unter anderem der Wiener Musikverein, die New Yorker Carnegie Hall und die Severance Hall in Cleveland. Das Lieblingsinstrument? Nicht ganz so einfach. Aber der im Salzburger Festspielhaus, der ist schon sehr schön, passend zum Raum und zu den Anforderungen. In seinen 30 Berufsjahren ist Ammann bislang nur einmal eine Saite während des Konzerts gerissen, "Gott sei Dank", das war im Münchner Herkulessaal. Mit widrigen Umständen bekam er es allerdings schon viel öfter zu tun. Kirchen beispielsweise, mit viel Hall und einer "Akustik wie im Badezimmer", gegen die ist selbst die filigranste Stimmung chancenlos, weil die ganze schöne Arbeit dort rettungslos im Echo versuppt und versinkt. Noch deutlicher wird die Abscheu in Ammanns Stimme nur, als er sich an ein Konzert in einer Halle in Travemünde erinnert. Dieser Schock sitzt bleibend tief.
Nun aber ist der Stimmer-Papst Ammann wieder einmal in Hamburg, um drei talentierten, berufserfahrenen Bischöfen die höheren Weihen einer Kardinals-Kandidatur zu verleihen. Die erste Woche wird nur justiert, in der zweiten geht's ums Klangliche. Und am Ende gibt's, wie sich das gehört, eine Bescheinigung über erfolgreiche Belehrung für die Teilnehmer. In einem Nebenraum der Steinway-Produktionshallen unterrichtet er mit Handwerkerschürze und weißem Hemd mit "Steinway Academy"-Logo die ehrfürchtig und konzentriert an ihren Schul-Tastaturen schraubenden Kollegen aus Norditalien. An einer Wand, vor dem Tisch mit Pausenkaffee, Brötchen und Butterkeksen, hängen Pianisten-Porträts mit Dank-Widmungen an die Klavier-Manufaktur, an einer anderen - neben Erinnerungsfotos früherer Teilnehmer, die stolz und glücklich neben ihrem Idol Ammann posieren - verwirren Querschnittszeichnungen von Mechaniken. Mit so beeindruckenden Einzelteil-Namen wie "Hammerruhekistenmutter" oder "Dämpferklotzzwischenglied-Achsentuch". Spätestens jetzt ist klar: Klavier spielen zu können ist ein Kinderspiel gegen die Kunst, ein Klavier reparieren zu können.
Mitten im Raum das Wichtigste: drei D-Flügel-Rohlinge, spielbar, aber noch unlackiert. Auf einer der vielen Werkzeug-Schubladen steht zwar "Steinway Secrets", doch es ist so rein gar nichts Spektakuläres oder gar Geheimnisvolles drin. Das Geheimnis passiert dann wohl doch bei der Handarbeit, an der Werkbank. Dort geben Giuseppe Passadori aus Breschia, Andrea de Blasi aus Verona und Lorenzo Cernasz aus Udine ihr Bestes, um die vielen Einzelteile ihrer 88 Tasten mit chirurgischer Sorgfalt und Engelsgeduld in Idealposition zu bringen. Was nicht ganz genau passt, wird nach allen Regeln der ammannschen Kunst passend gemacht.
Der heutige Unterrichtsstoff? "Hämmerbrennen", erklärt Ammann grinsend und wie zum Mitschreiben. Knochenleim, eine Spezialmischung, im Wasserbad zubereitet, wird auf die Hämmer aufgetragen und dann mit einem kleinen Brenner so vorsichtig erhitzt, dass die Spannung des sich zusammenziehenden Leims die Hämmerstege ganz sanft dorthin zieht, wo sie nach Ammanns Meinung hingehören. Passadori schreibt bei dieser Operation am offenen Instrument eifrig alles in sein großes schwarzes Notizbuch. Die Arbeitssprache ist eine freundliche Mischung aus Englisch und Italienisch. Doch allzu viel geredet wird hier sowieso nicht. Ammann erklärt oder führt geduldig vor, hin und wieder wird nachgefragt, einem der Italiener entfährt ein staunendes "Mamma mia!", als er kapiert, worum es hier geht. Und dann wird still und konzentriert an der Umsetzung gefeilt. Ammann kennt das schon.
Wie groß der Respekt der anderen vor Ammanns Können ist, ahnt man als Laie auch, weil nach und nach Techniker-Kollegen in die Werkstatt kommen, als wäre Audienz. Ein Franzose aus Paris, der dringend vorbeischauen wollte, ein Deutscher, gerade zurück aus China. Man kennt sich.
Die drei Italiener sind gut beschäftigt, Ammann hat also Zeit, um sich über die enormen, minimalen Spielräume bei seiner Suche nach Perfektion so seine Gedanken zu machen. Eine Suche, die durchaus auch eintönig ist, denn: "88-mal dasselbe, das ist die Kunst!" Das Geheimnis von Ammanns Erfolg ist schnell erzählt: "Dieser Beruf ist in erster Linie eine Kopfsache." Und wo ist dann der prinzipielle Unterschied zwischen seiner legendären Stimm-Arbeit und den Methoden seiner Akademie-Teilnehmer, die ja allesamt keine Anfänger sind? "Die haben das auch so gemacht." Kleine, feine Kunstpause. "Nur nicht so gründlich."
Faszinierende Einblicke in die Psyche eines Pianisten und seines langjährigen Stimmers bietet Katie Hafners Buch "Romanze mit einem Dreibeiner. Glenn Goulds obsessive Suche nach dem perfekten Klavier" (Schott, 22,95 Euro).