Ballett heißt Verzicht und ist grausam - so vermittelt es der Film “Black Swan“. Stimmt das? Wir haben den Chef des Hamburg Ballett John Neumeier gefragt.
Hamburg. Darren Aronofskys Thriller "Black Swan" löste in den USA große Diskussionen aus. Der Film, der für vier Golden Globes nominiert war und als sicherer Oscar-Anwärter gilt, erzählt davon, wie die Inszenierung von "Schwanensee" für die ehrgeizige und psychisch fragile Tänzerin Nina vom Wunschtraum zum Höllenritt gerät. Er wurde teils als "erbärmlich", "klischeebeladen" oder "Kunst-Trash" eingeordnet, teils als "Meisterwerk", "ekstatisch" und "böse Fantasie". Trainieren, verzichten, hungern - Natalie Portman zeigt eine Primaballerina, die leidet, ausschließlich für die Kunst lebt, nicht erwachsen werden kann und sich schindet, bis sie halluziniert. Ballett heißt Verzicht und ist grausam, Zickenkriege inklusive lautet die Botschaft. Stimmt das? Wir sprachen darüber mit dem Chef des Hamburg Balletts, John Neumeier, der sich den Film vorab angeschaut hatte.
Hamburger Abendblatt:
Hat Ihnen der Film gefallen?
John Neumeier : Nein. Weder die Form noch der Inhalt. Der Film ist kein Thriller, sondern langweilig, denn Spannung kann man nicht aus Ekel herleiten. Inhaltlich finde ich ihn eher schockierend. Es ist weniger ein Ballett-Film als einer über eine kranke Frau. Das ist okay, dafür kann man sich interessieren. Aber hier ist es so, dass der Beruf dieser Frau, ihre Leidenschaft, daran schuld ist, dass sie krank wird. Man sieht eine Fantasiewelt, die ein billiges Klischee nach dem anderen aneinanderreiht. Nur ein Beispiel: Der Film spielt in den USA. Dort gibt es die strengsten gewerkschaftlichen Regeln, was Arbeitszeiten und den Umgang miteinander angeht. Im Film wird das alles ignoriert. Man tanzt bis zum Umfallen, schreit sich an. Es gibt Sex mit Abhängigen. Das ist schlicht unmöglich. Und die Regulierungen haben ihren Sinn. Der Körper braucht Schutz, kann nicht ewig trainieren, das weiß jeder Tänzer. Sonst passieren Unfälle.
Was ist das Schlimme an dem Film?
Neumeier: Die ganze Ballettwelt wird als eine Welt von Kranken dargestellt, in der monströse Menschen junge Mädchen ausnutzen, die natürlich alle magersüchtig sind. Das stimmt doch alles nicht. Ballett ist eine Kunst, in der viele verschiedene Künstler Platz haben. Nicht nur Frauen im Alter von 17 bis 24 Jahren, die sich noch dazu jeden Tag quälen. Tänzer haben Lust und Freude am Tanzen.
Aber ein Film muss nicht die Realität abbilden, kann auch Metaphern zeigen.
Neumeier : Sicher. Aber der Film tut ja so, als würde er die Tür zu einer unbekannten Welt aufstoßen, der des Balletts, und zeigen, wie es dort zugeht. Im Film ist Ehrgeiz krankhaft. Einem Sportler wirft man hingegen nie vor, wenn er Leistung bringen will.
Wie wahr ist Portman als Tänzerin?
Neumeier : Sie spielt gut. Bis zu dem Moment, wo sie tanzen soll. Da genügt mir keine Großaufnahme mit wackelnden Armen. Sie soll doch eine gute Tänzerin sein, die sich quasi zu Tode tanzt. Das möchte ich dann auch sehen. Eigentlich gibt es ja überhaupt keinen Tanz in dem Film zu sehen. Das ist ein tanzloser Tanzfilm.
Na, das stimmt doch nicht!
Neumeier : Aber natürlich. Man sieht nur den Auftritt vom weißen Schwan und sie macht die ersten Armbewegungen, die im Übrigen nicht mal auf der Musik draufliegen. Dann sieht man 15 Sekunden vom schwarzen Schwan und das Corps de Ballett huscht über die Bühne. Irgendwann gibt es auch noch ein bisschen modernen Tanz. Mit offenen Haaren. Warum diese Szene kommt, wird aber nicht klar. Wenn das die Wahrheit sein soll, wenn das die Kunst sein soll, für die sich dieses Mädchen opfert, dann ist es doch besonders furchtbar. Man bekommt nie das Gefühl, dass diese Kunst es wert ist, dafür etwas aufzugeben.
Auch Pianisten müssen täglich üben, nur sieht man dort eher auf die Erfolge als auf die Einschränkungen ...
Neumeier : Natürlich braucht Ballett Hingabe. Aber was ist daran schlecht? Leidenschaft und Engagement für eine Sache sind doch etwas Schönes.
Was fehlt Ihnen im Film?
Neumeier : Die Schönheit des Tanzes. Seine Qualität. Wenn man eine fremde, unbekannte Welt wie das Ballett in dieser besonders ungesunden, negativen Art zeigt, bleibt nur Schlechtes von dieser Kunst hängen. Das gilt insbesondere, weil die Ballettwelt eher unbekannt ist. Die Menschen können die im Film gezeigten Bilder nicht hinterfragen und glauben sie. Da kommt ein Choreograf und küsst die Tänzerin. So etwas gibt es nicht. Das ist völliger Irrsinn.
Es ist ja nur ein Bild dafür, dass er sie heiß machen will.
Neumeier : Aber er macht sie nicht heiß. Ihr wachsen nur schwarze Flügel. Wenn sie auf der Bühne plötzlich ihr Tutu aufreißen würde, nackt wäre und den Mann verführen wollte, das würde mich interessieren. Aber schwarze Flügel sind nicht mehr als Special Effects.
Wie wichtig ist Hungern für den Beruf?
Neumeier : Magersucht ist eine Krankheit. Mit einer Krankheit ist diese Kunst nicht zu machen.
Fordert der Beruf mehr Opfer als andere?
Neumeier : Das hängt davon ab, was man unter Opfern versteht. Opfern heißt, etwas zu geben und etwas zu bekommen. Wenn ich gebe und nichts bekomme, wäre das Opfer zu groß. Das ist beim Ballett nicht so. Vielleicht muss man auf einiges verzichten, aber man bekommt auch sehr viel zurück. Jeder Mensch kann entscheiden, was ihm gut tut.
Ein großes Thema im Film ist der Zickenkrieg. Gibt's das in einer Compagnie?
Neumeier : "Schwanensee" ist eine traditionelle Choreografie, aufgebaut wie eine Pyramide. Oben die Primaballerina und der Haupttänzer, darunter Nebenrollen, kleine Rollen und das Corps de Ballett. Ein moderner Choreograf arbeitet eher vertikal, mit allen Tänzern.
Aber schaut man nicht trotzdem auf die Stars? Im Theater sieht man auch lieber Uli Tukur zu als einem Chargen.
Neumeier : Aber jeder für sich sollte versuchen, so zu spielen wie Tukur. Das ergibt ein spannendes Ensemble.
Lesen Sie dazu auch:
"Ich wollte die Arbeit und den Schmerz der Tänzer zeigen"
Warum Darren Aronofsky einen Ballettfilm gedreht hat
Ob ich das Ballett mit meinem Film "Black Swan" dämonisieren wollte? Einige Leute mögen es so verstehen. Aber das war nicht meine Absicht. Ich wollte zeigen, wie viel Arbeit und Schmerz die Tänzer bewältigen müssen, um ihre Kunst zu schaffen. Ich hoffe, das verschafft dieser Kunst mehr Respekt. Was man auf der Bühne sieht, macht ja den Eindruck, als sei es total mühelos.
Natalie Portmans Charakter ist der weiße Schwan aus "Schwanensee". Im Ballett ist sie sehr zerbrechlich und jungfräulich und stürzt sich am Ende von einer Klippe. Das ist nicht nur die Entwicklung eines märchenhaften Charakters, sondern zeigt die Rahmenbedingungen eines knüppelharten Berufs.
Die Mühsal sieht man besonders gut, wenn man dichter herangeht. Hier ist das Kino gegenüber dem Theater im Vorteil. Wir hatten viel mit Verletzungen zu tun, verstauchte Knöchel zum Beispiel. Und einige Tänzer haben ihre Zehennägel verloren. Ich habe mich vorab mit vielen Tänzern unterhalten und mitbekommen, dass viele von ihnen unter Schmerzen litten. Keiner sprach freiwillig darüber. Es ist wie bei einer Geburt: Man vergisst den Schmerz sehr schnell. Im Film zeige ich deshalb blutige Füße und lasse die Knochen knacken. Geschundener Körper gleich geschundene Seele? Ich könnte nicht sagen, was zuerst kommt. Oder doch - wohl zuerst die Seele.
Wenn man eine so großartige Darstellerin wie Natalie Portman hat, muss man sie nicht vor sich hertreiben. Man öffnet einfach die Tür und lässt sie hereinspazieren. Junge Schauspieler wollen am Anfang ihrer Karriere vor allem herumbrüllen und heulen, danach vergessen sie das aber wieder. Ich habe Natalie die Rolle angeboten, sie hat sofort zugesagt. Und wie eine Wahnsinnige dafür gearbeitet. Ich hoffe, sie wird für all den Schmerz und Einsatz belohnt.