Fast zehn Jahre wird Liu Xiaobo noch in Haft sitzen, wenn der Nobelpreis heute verliehen ist. Wie lange wird China Menschen wie ihn wegsperren?
Hamburg. Was wird das heute für ein Tag für Liu Xiaobo, der 500 kalte Kilometer von Peking entfernt in einem Gefängnis im chinesischen Jinzhou sitzt? Wird es einer wie die vorigen, ewig gleichen, einer wie die 3480 Tage, die er noch absitzen muss bis zum 21. Juni 2020, dem Datum seiner Entlassung? Einsam, abgeschnitten von der Welt, seiner Frau, von Freunden, von allen aktuellen Informationen, von den Machthabern in Peking verleumdet, diffamiert?
Dieser 10. Dezember wird mehr als nur einer von Tausenden unwiederbringlich gestohlener Lebenstage sein. Denn an diesem 10. Dezember sollte Liu Xiaobo, geboren am 28. Dezember 1955 in Changchun, in Oslo stehen und den Friedensnobelpreis entgegennehmen, den ihm das Nobelkomitee zugesprochen hat. Die Begründung: sein "langer und gewaltloser Kampf für fundamentale Menschenrechte in China". 1989 hat er versucht, für die Besetzer des Tiananmen-Platzes freien Abzug auszuhandeln, den Opfern des Massakers hat er den Preis gewidmet. Die Ehrung gehe an alle, sagte er, die ihr Leben dem Geist von Frieden, Freiheit und Gewaltlosigkeit geopfert hätten. Das konnte seine Frau noch der Öffentlichkeit mitteilen. Seit Bekanntgabe des Preises gelten für sie Hausarrest und Kommunikationsverbot.
Seit vielen Wochen fährt Peking über Botschaften und Konsulate eine giftige und hochpeinliche Kampagne gegen den Preis, das Komitee, gegen die norwegische Regierung und gegen alle, die es wagen würden, heute ihre Botschafter und Repräsentanten zur Preisverleihung zu schicken. Sie gipfelte in dem Satz eines Außenamtssprechers: "Wir werden uns nicht wegen der Einmischung einer Handvoll Clowns ändern und von unserem Weg abkommen." Mehr Klartext geht nicht. Damit die Chinesen möglichst wenig über die Zeremonie erfahren, blockierte die Zensur zeitweise die Ausstrahlung des britischen Fernsehsenders BBC. Auch die Internetsperren wurden verschärft, die Webseiten der BBC und des norwegischen Fernsehsenders NRK waren zuletzt nicht aufrufbar.
In einer Erbsenzählerei ohnegleichen wird jeder Staat, der keinen Botschafter zur Preisverleihung sendet, als Unterstützer der chinesischen Linie gepriesen. Darunter Länder wie Russland, Pakistan, Irak, Iran, Kolumbien, Afghanistan, der Sudan, Kuba, die Ukraine. Etliche sind darunter, denen ihre eigenen Liu Xiaobos so lästig sind wie die Querdenker in China. Am offensten hängt EU-Beitrittskandidat Serbien sein Mäntelchen nach dem Wind: Serbien nehme Menschenrechtsverletzungen sehr ernst, hieß es, die Beziehungen zu China seien aber vorrangig. Wer an Lius Stelle den Preis entgegennimmt, ist nicht bekannt. 40 Mitglieder der exilchinesischen Dissidentengemeinde werden anreisen, auch der deutsche Botschafter in Norwegen wird der Zeremonie beiwohnen.
Eine Sprecherin von Chinas Außenministerium sagte, dass die Mitglieder des Nobelkomitees "selbst Regisseure und Schauspieler einer anti-chinesischen Posse sind"; mit der Verleihung des Preises unterstütze das Komitee "kriminelle Aktivitäten" in China. Das Land verleiht deshalb heute einen eigenen Friedenspreis. Zum Glück aber ist die Preisverleihung in Oslo viel mehr. Sie ist eine äußerst notwendige Mahnung, dass Menschenrechte und demokratische Freiheiten - in Europa über Jahrhunderte erkämpft und stabilisiert - mehr sind als der Hochglanzlack für Sonntagsreden. Der Nobelpreis für Liu legt den Finger in eine Wunde, die das moderne China bis heute nicht schließen konnte. Und das tut weh.
Denn China ist unbestritten ein Land großer kultureller und wissenschaftlicher Leistungen über Tausende von Jahren hinweg. Es hat eine Reichsidee geschaffen, die viele Ethnien immer neu zusammenbinden konnte. Es hat unzählige Jahre der Fremdherrschaft durchlitten, die Wirren der Kommunistischen Revolution und die Hungersnot nach dem "Großen Sprung nach vorn", die Millionen Chinesen tötete, später dann das blutige Chaos von Maos Kulturrevolution. Es hat ein ungeheures ökonomisches Wiedererwachen geschafft, hat Jahre auf der Überholspur hinter sich, die Lebensverhältnisse haben sich für viele verbessert - mit dem Elend der ausgebeuteten Wanderarbeiter als Kehrseite.
Noch immer regiert die Kommunistische Partei, deren Kader argwöhnisch darauf bedacht sind, diese Entwicklung kontrollierbar zu halten. Die größere Bewährungsprobe wäre indes eine andere: einen lockeren, entspannten und dialogfähigen Umgang mit Kritikern zu finden - um aus China ein Land zu machen, in dem die persönliche Freiheit Schritt hält mit den übrigen Fortschritten der Gesellschaft.
Wie groß der Sprung dahin ist, zeigt ein Blick in Chinas Geschichte: Intellektuelle Kritiker lebten immer gefährlich. Schon der erste erhabene Gottkaiser Qin Shihuangdi - der mit der Tonarmee und Initiator der Großen Mauer - ließ regimekritische Bücher verbrennen; wer sich dagegen sperrte, wurde mit Brandmal im Gesicht und Zwangsarbeit bestraft. Mao Tse-tung trat 1956 die Kampagne "Lasst 100 Blumen blühen" los, die Kritiker ermutigte, ihre Meinung zu sagen. Als sie das getan hatten, war 1957 schon wieder Schluss damit, Tausende büßten ihre "Frechheit" in Arbeitslagern. Und in der Kulturrevolution zehn Jahre später wurden Intellektuelle als "stinkende Nummer 9" diffamiert, verfolgt, gedemütigt. Die Kommunistische Partei Chinas ist seit 61 Jahren an der Macht und noch immer erschütternd dialogunfähig.
Jetzt denken also Liu Xiaobo und seine Freunde den Weg voraus. Zu einem China, das seine gesellschaftliche Verfassung von den Beschränkungen und der Willkür der Ein-Parteien-Herrschaft befreit, das am Ende auch in Sachen bürgerlicher Freiheiten und Menschenrechte den Platz einnimmt, den ihm seine Wirtschaftskraft schon heute sichert. Sie reklamieren, dass es einen chinesischen Sonderweg genau hier nicht geben könne, da diese Freiheiten universell seien. Und auch nicht gegen die großen Verbesserungen der ökonomischen Lage aufgerechnet werden könnten, die China bereits erreicht hat. Das Schlimmste für die Machthaber: Diese Meinungen finden offene Zustimmung, noch nicht massenhaft, noch weitgehend unterdrückbar, aber ständig wachsend. Liu Xiaobo selbst brachte vor zwei Jahren mit anderen die "Charta 2008" auf den Weg - ein Dokument, das so etwas sein könnte wie das Navigationssystem zu einem freieren China (siehe Kasten). Gewaltfrei sollen diese Veränderungen sein, nur dafür steht Liu Xiaobo. Es kostet ihn elf Jahre seiner Freiheit.
Die Reaktionen von Regierung und Justiz auf Charta und Nobelpreis zeigen zweierlei: Noch sind sie stark genug, Liu Xiaobo und andere wegzusperren, mundtot zu machen, unter ständiger Bedrohung zu halten. Es ist eine beängstigend deutliche, brutale Demonstration: Schaut her, so handeln wir, wenn wir handeln können, wie wir wollen. Die zweite Seite aber sind Nervosität und Schwäche. Wer sich so sicher ist, die besseren Argumente zu haben, müsste abweichende Meinungen und einen kritischen Diskurs nicht scheuen. Wer es doch tut, beweist Angst und hat die dunkle Ahnung, dass sich da etwas entwickelt, das auf Dauer erhebliche Sprengkraft haben wird. Das hat, zeigt der weltgeschichtliche Prozess, auf Dauer noch keine Regierung unbeschadet überstanden.
China vergibt derzeit die große Chance, sich seiner besten und humansten Köpfe für eine demokratische Entwicklung zu versichern, sie einzubinden und dem Land nutzbar zu machen. Solche Missachtung gegenüber gesellschaftlichen Verbesserungsvorschlägen findet man immer nur dann, wenn's ans Eingemachte geht - wenn Privilegien auf dem Spiel stehen, die rational nicht mehr zu begründen sind.
Deswegen sitzt Liao Xiaobo, der mutige und friedliebende Mann, der Literaturprofessor und Bürgerrechtler, heute im Gefängnis. Der einzige Protest, der ihm geblieben ist, ist seine schiere Existenz. Er wird in Oslo sein, in Gedanken. Vielleicht wird er weinen, wie an dem Tag, als er die Nachricht von der Auszeichnung bekam. Doch der Friedensnobelpreis sorgt dafür, dass er und seine Ideen nicht vergessen werden. Und hoffentlich auch dafür, dass die westlichen Handelspartner China mit geeinter Stimme mahnen, Menschen wie ihn nicht durch Haft zu zerbrechen. Auch wenn die Gewinne aus einem reibungslosen Handel mit dem Reich der Mitte noch so verlockend sind.