Am Schauspielhaus vermischen sich bei “Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg“ Realität und Agitprop-Theater.
Hamburg. Der Delfin hat scharfe Zähne bekommen. Der bislang allzu possierliche Meeressäuger, den der zurückgetretene Schauspielhaus-Intendant Friedrich Schirmer zum Maskottchen seines Theaters erklärt hatte, ist zum Haifisch mutiert und fletscht auf zwei Protestplakaten im Foyer des Hauses kampfeslustig seine Beißer. Sogar ein bisschen Blut klebt daran, na, immerhin doch blutrote Farbe. Es geht um etwas. Um die Zukunft der Mitarbeiter, natürlich, um die Zukunft des Theaters, sowieso, und letztlich doch auch um die Zukunft der Stadt. Denn wie soll sie sein, diese Stadt, in der man leben möchte, aber nicht um jeden Preis? Das Thema ist komplex , da hängt vieles mit vielem zusammen, das wird an diesem Abend besonders deutlich.
Auch um Kinderarmut in Hamburg geht es heute, eigentlich nämlich ist Premiere . "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg" heißt die Uraufführung des Agitprop-Regisseurs Volker Lösch, der an dieser Stelle vor zwei Jahren für Schlagzeilen sorgte, als er in der (später zum Theatertreffen eingeladenen) Inszenierung "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?" trotz versuchter Einflussnahme der damaligen Kultursenatorin Karin von Welck die Namen der reichsten Hamburger von echten Arbeitslosen verlesen ließ. Diesmal also geht der Blick nicht Richtung Elbchaussee, sondern nach Mümmelmannsberg.
Dass ausgerechnet ein so politischer Theatermacher mit seinem neuen Stück ausgerechnet in dieser kulturpolitisch turbulenten Woche die Premiere bestreitet, ist natürlich Zufall und für die eigentliche Inszenierung wohl auch kein großes Glück, denn die Foyer- und Kantinengespräche vor und nach der Vorstellung kreisen weniger um die (übrigens hervorragenden) Leistungen der Darsteller oder die Zustände in Mümmelmannsberg als vielmehr um den amtierenden Kultursenator Reinhard Stuth und seinen Bürgermeister. Die sich - so der wütende Ensemble-Kommentar zum vermeintlich gestiegenen Kulturetat - verhalten, "als würde man einen Turm aufstocken und dafür das Fundament verwenden".
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Das Fundament, das sind nämlich - auch - Abende wie dieser, an denen kein Eventtheater geboten wird, keine leicht verdauliche Ablenkung vom Alltag , sondern ein Abend, an dem das Theater sich seiner Verantwortung bewusst und ganz unmittelbar zum Spiegelbild der Gesellschaft wird. "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg" erzählt sicher keine neue Geschichte, erinnert aber an eine bestehende, an soziale Ungerechtigkeiten, die eben auch Teil dieser Stadtwirklichkeit sind. Wie ein überdimensionales Familienporträt wirkt das erste Bild, in dem sich Schauspieler und Laien - darunter vor allem Jugendliche der Gesamtschule Mümmelmannsberg, auf deren Erfahrungen das Stück basiert - vor einer Katalog-Schrankwand frontal präsentieren.
"Ihr seid nicht niedlich", ätzt Marion Breckwoldt, die Patin dieses Prekariats, in ihrer Mitte, "ihr seid nicht unsere Zukunft, nicht unsere Hoffnung!" Die Kinder sind hibbelig, ihre Eltern arbeitslos oder in einfachen Jobs, der Lehrer (Achim Buch) leistet nur noch "themengebundene Sozialarbeit". Im Stil eines antiken Chors, den Bernd Freytag wie schon bei "Marat" zu erstaunlicher Präzision geführt hat, schreien diese Kinder, "die Sozialschmarotzer von morgen", voller Kraft und Energie ihre Perspektivlosigkeit ins Parkett, verzweifelte Hasstiraden auf verkorkste und verpasste Leben.
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Die tägliche Flucht ist zugleich der vermeintliche Ausweg: In Fernsehshows muss man keine Bewerbungen schreiben, sondern nur "Challenges" gewinnen, dann klappt's auch mit dem Shoppingtrip. René-Pollesch-artig feuern die Schauspieler (neben Breckwoldt und Buch fabelhaft: Tristan Seith und Marco Albrecht) ihre Wortsalven ab, die künstlerische Überhöhung schafft die Überblendung zum Grimmschen "Hänsel und Gretel"-Märchen, in dem Eltern ihre Kinder abschieben. Hartz IV reicht auch im Märchenland nicht für alle.
Sie hat natürlich etwas rührend Altmodisches, diese Form des Agitprop-Theaters. Und doch passt sie in diesem Fall wie bestellt: Zur aktuellen Sarrazin-Debatte (wie oft sieht man türkische Mütter mit Kopftuch im Theater, die ihren Söhnen und Töchtern voller Stolz beim ernsthaften Spiel zusehen?) und zur Kampfansage im Anschluss. Das Deutsche Schauspielhaus sei einst "von Bürgern dieser Stadt für Bürger dieser Stadt errichtet" worden, heißt es darin, wie sehr hier "Für alle!" gemeint ist, zeigt auch dieser Abend: "Wir sind das Schauspielhaus! Sie auch!"
Alle? Na, fast alle. Kultursenator oder Bürgermeister jedenfalls saßen nicht im Parkett. Die Botschaft wird sie trotzdem erreichen: Der Delfin ist nicht mehr nur zum Spielen aufgelegt.
Nächste Vorstellungen: 5. und 11.10.