Sie ist das größte der Gefühle, aber sie tut auch am meisten weh - das wissen wir seit Scarlett O'Hara. Hat die Liebe überhaupt einen Sinn?
Hamburg. Die Loreley sang unplugged. Aber so schön, dass die Schiffer - erfasst von "wildem Weh" - im felsigen Rheintal bei St. Goar reihenweise ertranken. Am flachen Ufer der Elbe wäre der Gesang vielleicht verweht wie ein Hauch über der Marsch. Trotzdem wurde die Loreley zum Sinnbild des romantischen Sehnens nach der Liebe.
Nicht zufällig griffen Dichter wie Clemens Brentano und Heinrich Heine diesen Stoff auf. Die Frau auf dem Felsen erklärt sich nicht, sie singt nur eine "wunderbare, gewaltige Melodei" (Heine). Und ihr Gegenüber lässt sich nur allzu gern hinreißen, anstatt auf die Stromschnellen des wirklichen Lebens zu achten. Die romantische Liebe verfrachtet Verliebte in eine Art Verzückungszustand, aus dem es "keine Rettung mehr" gibt (Brentano). Eine Erfahrung, bei der Menschen über Bord gehen können, sogar an Land und im Wohnzimmer, und nach der sie nie wieder sind wie zuvor.
Diese Loreley-Vorstellung von der Liebe ist äußerst langlebig. Sie hat sich bis in die Postmoderne transformiert. Inzwischen hält sie ganze Branchen am Leben, Gefühlsbelletristik, Ratgeberliteratur, Legionen von Popmusiker/innen, Hollywood, Bollywood und Telenovelas, Chatrooms und Dating-Agenturen. Und das ist merkwürdig. Denn die romantische Liebe ist gewollter Masochismus, darauf angelegt, wehzutun - wenn der/die Richtige nicht auftaucht oder wieder geht. Ein "unordentliches Gefühl" nennt sie der Philosoph Richard David Precht in seinem Bestseller "Liebe". Wie und warum konnte dieses Gefühl überhaupt in die Welt kommen?
Es ist 9 Uhr morgens, ein trüber kalter Tag in Hamburg, kein besonders sinnfälliges Klima für das Thema. Aber Precht ist beim Interview in seinem Element. Die romantische Liebe ist menschheitsgeschichtlich noch so jung, dass sie keinen evolutionären Vorteil gehabt haben kann, sagt er. Tiefe Neigung zwischen zwei Menschen, Verliebtheit - ja, gab es wohl immer schon. Aber als Konzept für ein gemeinsames Leben tauchte sie erst vor rund 200 Jahren auf. "Und der Grund", meint Precht, "lag im Rückgang der Religion."
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Für den mittelalterlichen Menschen war die innige, persönliche Liebe zu Gott, dem großen Beschützer, Wundertäter und Retter in der Not, noch eine mit vielen Riten beschworene Selbstverständlichkeit. Precht zufolge änderte sich das seit dem 18. Jahrhundert: "In demselben Maß, wie dieser personale Gottesbezug schwächer geworden ist, wurde das Bedürfnis nach romantischer Liebe in der Geschlechterbeziehung stärker." Auf den geliebten Menschen wurde nun alles übertragen, was bisher der Glaube bewirken sollte: Mach mich ganz, mach mich heil, mach, dass ich glücklich bin.
In Büchern erfunden, war die romantische Liebe aber noch lange kein Lebenskonzept, sagt Precht. "Nur eine kleine Schicht hat sie überhaupt probiert, eine Avantgarde im Künstlertum. Die ersten Liebesheiraten spielten sich im Künstlermilieu ab. Das Bürgertum im 19. Jahrhundert fand sie noch seltsam."
In seinem Buch und in Vorträgen zieht Precht gegen die landläufige Vorstellung zu Felde, dass das Gefühl der Liebe aus der Sexualität entstanden sei - zur Absicherung der Brutpflege. "Das ist so eine beliebte Biologen- und Anthropologenthese. Ich glaube dagegen, dass die Liebe aufgrund einer Überschussproduktion von Sensibilität, Intelligenz und sensiblen Bedürfnissen entstanden ist und sich mit der Sexualität nur flüchtig im Hausflur trifft."
Bei unseren Vorfahren, den Menschenaffen, gibt es so etwas wie individuelle, selbstlose Liebe nur zwischen Mutter und Kind. Irgendwann vor zweieinhalb oder drei Millionen Jahren ist das Gehirn des Vormenschen so schnell gewachsen, dass er nicht nur Werkzeuge machen und das Feuer beherrschen lernte, sondern auch differenzierte soziale Kompetenzen entwickelte. Darüber entstand die landläufige Vorstellung vom "Caveman", so mythisch wie die Loreley: Der Höhlenmann bringt von der Jagd die kostbarste Nahrung mit - Fleisch - und erkauft sich damit den Sex der Höhlenfrau. Da sie während der Schwangerschaften und Stillzeiten auf gehaltvolle Nahrung angewiesen ist, macht sie das Beste aus ihrer Abhängigkeit und überträgt die Liebe zum Nachwuchs auf den Mann.
Eine äußerst zählebige Legende. Sie soll erklären, warum Frauen auch heute noch angeblich mehr Gefühle in Beziehungen investieren und warum Männer die fleischliche Lust auch oft mit anderen Frauen teilen. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond etwa schreibt: "Im Gegensatz zu Schimpansen sind Menschen (bei der Partnerwahl) viel wählerischer, weil das Aufziehen eines Kindes ohne Mitwirkung des Vaters eine sehr schwere Aufgabe ist, wenigstens für Jäger und Sammler, und weil Sexualität zu einem Bestandteil des Zusammenhalts wird, durch den sich Elternpaare von anderen Männern und Frauen ihrer näheren Umgebung unterscheiden." Diamond betont, dass Menschen im Gegensatz zu anderen Primaten keine erkennbaren Brunstzeiten haben, der Eisprung der Frau ist verborgen. Die Männer wussten also nie, wann sie sich fortpflanzen konnten. Diese Unsicherheit, so Diamond, habe andere Bindungen nötig gemacht: Gefühle wie Liebe.
"Wir wissen nicht, was vor drei Millionen Jahren war", sagt Precht. "Fest steht aber, dass Menschenkinder eine sehr viel längere Lernphase haben als andere Affen. Die Phase, in der sie nicht allein lebensfähig sind und lernen, dauert zwölf, dreizehn Jahre, bei jungen Affen drei bis fünf Jahre. In dieser Zeit saugen wir von unseren Eltern zwei Nährstoffe auf: Zum einen machen Eltern unser Leben spannend und sorgen für Anregungen, zweitens geben sie uns Sicherheit, Sinn, Geborgenheit, Zuneigung. Wenn wir dann in der Pubertät beginnen, uns von den Eltern zu lösen, projizieren wir solche Erwartungen auf einen geschlechtlichen Partner."
Kein einziger fossiler Frühmenschenschädel verrät, was dessen Gehirn gedacht und gefühlt hat. Aber die Wanderung der ersten kleinen Homo-erectus-Sippen aus Afrika nach Europa und Asien konnte nur gelingen, weil sie untereinander kooperierten, sich versorgten und verlässlich halfen. Liebe wuchs allmählich aus einem größeren Pool empathischer Fähigkeiten und nicht aus den Quickies sexhungriger Gnu-Jäger.
Aber die Evolution der Paarbildung verzichtete noch jahrtausendelang auf die romantische Liebe. Die Heiratsmärkte waren bis ins 20. Jahrhundert hinein soziale Auslese pur. Goethe konnte seine Frau in Weimars besten Kreisen nicht vorzeigen, weil sie ein armes Blumenmädchen gewesen war. In den Romanen von Jane Austen und Theodor Fontane kann man nachlesen, welche Mühe adlige und bürgerliche Eltern darauf verwendeten, ihre Kinder standesgemäß und vorteilhaft zu verheiraten; und welche Katastrophe es war, wenn eine Tochter mit einem unpassenden Mann "durchbrannte" oder der Sohn eine "Mesalliance" aus Liebe einging. Denn ab 1800 war sie schon in der Welt, diese verrückte romantische Idee von "the one and only".
Und woher kamen die Vorbilder? Wie heute aus Medien: Romanen. "Woher soll man sich denn auch abgucken, wie diese Liebe geht?", sagt Precht. "Die allerwenigsten Pubertierenden haben Eltern, die ungeheuer romantisch miteinander turteln, und die meisten Jugendlichen wollen es gerade von den Eltern nicht wissen. Die Vorlage kann nur aus der Fiktion geboren werden." Der Hamburger Friedrich Gottlieb Klopstock war mit seinen spirituell verbrämten Liebes-Oden geradezu ein deutscher Popstar des 18. Jahrhunderts. Goethes "Werther", Liebesromane von Eugenie Marlitt, Dumas' "Die Kameliendame", Margaret Mitchells "Vom Winde verweht", Tolstois "Anna Karenina", Fontanes "Effi Briest" waren Kassenschlager ihrer Zeit so wie heute die vampirischen Lovestorys von Stephenie Meyer.
Die Ideenwelt der romantischen Liebe ist dabei tief ins kollektive Bewusstsein eingedrungen. Aber die Erwartungen haben sich inzwischen potenziert. Die große Liebe verändert alles, heißt es. Sie umfasst selbstverständlich auch die Kinder, die man mitbringt oder noch bekommt, sie äußert sich in teuren Geschenken, in einer fantastischen Sexualität, im harmonischen Zusammenleben, in fast deckungsgleichen gemeinsamen Interessen.
"... und mittlerweile auch in einer ewigen jugendlichen Schönheit", sagt Precht. "Das war früher nicht so. In der Romantikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts spielte sie fast keine Rolle. Auch in meiner eigenen Jugend Ende der 70er-Jahre waren die Schönheitsanforderungen an 14-jährige Mädchen und Jungen viel geringer. Heute muss ein Junge gestählt und trainiert aussehen, das Mädchen darf kein Gramm zu viel wiegen. Das ist eine absolute Überforderung - der Terror des Ideals."
Solche Erwartungen an die große Liebe sind K.-o.-Ansprüche, unerfüllbar, auf Dauer sowieso. Eine Filmliebe dauert vielleicht 120 Minuten, und wenn die zwei sich gekriegt haben, ist der Film zu Ende. Im wirklichen Leben geht's dann erst richtig los - mit den Reibungsverlusten, wenn man sich besser kennenlernt. All die Hormone und Neurotransmitter, die Mutter Natur beim Verlieben mobilisiert, kommen nach vier bis sieben Monaten wieder zur Ruhe, der eingebaute rosa Filter verschwindet vor dem Blick. Und plötzlich merkt sie: "Der lässt ja seine Haare im Duschabfluss liegen." Er: "Die Autowerkstatt überlässt sie wieder mal mir." Er behält lieber seine alten Kumpels, sie kann nicht mit Geld umgehen, die Schwiegereltern sind doof ...
Die in Israel lehrende Soziologin und Beststellerautorin Eva Illouz untermauert sogar die These, dass an der Liebe heute anders und tiefer gelitten wird als zu Zeiten von Effi Briest. Wenn junge Leute damals den geliebten Menschen nicht heiraten konnten, weil es an Mitgift oder Standeszugehörigkeit mangelte, dann waren das außerpersonale Gründe, allgemein akzeptiert, und nicht individuelle Fehler. Die gesellschaftlichen Konventionen boten sogar einen gewissen Schutz davor, dass die Ablehnung eines Heiratsantrags zu "persönlich" genommen wurde.
Das hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert. "Das Individuum wird aus der normativen Bewertung seines sozialen Standes herausgelöst", schreibt Illouz, jeder kann theoretisch jeden als Partner wählen. Das macht den Kontakt-Markt viel größer, die Konkurrenz auch. An die Stelle von Kriterien wie Moral und Verbindlichkeit sind Attraktivität, Sexappeal und Konsumismus getreten. Menschen mit "erotischem Kapital" haben durch die mediale Aufwertung der Sexualität auch ohne Schulbildung oder Einkommen Zugang zur oberen Mittelklasse gewonnen (das erklärt zumindest Paarungen wie Prinz Foffi und Tatjana Gsell).
Vor allem betritt das Individuum diesen Kontaktmarkt ungeschützt auf eigenes Risiko. Entscheidend für Illouz ist, dass die romantische Liebe auf den Kontaktmärkten "der Logik des unternehmerischen Lebens gehorcht, der zufolge jeder Partner den eigenen Freiheiten Priorität einräumt und seine Nöte einem mangelhaften Selbst zuschreibt". Soll heißen: Wenn ich viele Eroberungen verzeichnen kann, hat meine Ich-AG einen hohen Wert. Wenn ich kaum Erfolge habe, bin ich nichts wert.
Man muss sich nicht wöchentlich beim Speed-Dating versuchen, um die Wirkung zu spüren: Der gnadenlose, ganz unromantische Erfolgsdruck macht jedes Ich verletzlich. Er erzeugt gerade bei Menschen im besten Paarfindungsalter - zwischen 18 und 35 - die oft beschriebene Angst vor Bindung, von der Familiengründungsangst ganz zu schweigen. Was wird also aus der romantischen Liebe?
"Ich glaube, dass sie ihren ganzen Zauber nur als Ideal entfaltet, als Fantasie und nicht als praktischer Versuch in der Wirklichkeit", sagt Precht. Unser Alltag - verdichtete Arbeit, Mobilitätsdruck, Familienorganisation, Vorsorge - passt nicht dazu, eine entrückte Zweisamkeit mit kosmischer Ekstase zu kultivieren.
Komischerweise sprechen Paare, die schon lange zusammen sind, auch kaum von Romantik und Liebe. Sie sagen eher: Wie haben schon vieles miteinander durchgestanden. Oder: Wir haben ähnliche Anschauungen. Oder: Wir teilen die Vorliebe für Umbrien/Bergsteigen/Tauchen und kochen gern zusammen. Manche leben seit vielen Jahren gemütvoll nebeneinander her und wissen trotzdem, was sie im Ernstfall aneinander haben. "Wenn ich 14- oder 15-Jährigen sage: Darauf kommt es an in einer Partnerschaft, dann schütteln die den Kopf", meint Precht. "Aber ich finde das ganz natürlich. Die Liebesstrategie der Jugend ist Lustgewinnung, die des Alters Leidvermeidung."
Leid vermeiden ist nicht das, was wir landläufig von der Liebe erträumen. Aber vielleicht ist es einfach so, dass wir die Liebe immer noch nicht ganz verstanden haben.