Vom Ex-Chefredakteur übers Studentenvolk bis zum dänischen Star ist ein hüsch gemischtes Völkchen auf dem Filmfest Hamburg unterwegs.

Hamburg. Manchmal geht das Kino schon vor dem eigentlichen Film los: In der Schlange vor dem Cinemaxx 1, kurz vor der Deutschlandpremiere von „Verblendung“, war Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust beim eifrigen Scrollen auf dem iPhone zu beobachten. Seine Lektüre? Spiegel Online, was sonst. Im Saal selbst dann konnte man ein perfektes Beispiel unbegabter Moderation beobachten: Die Dame, die aus den hinteren Reihen aussah wie Doris J. Heinze, aber nicht Doris J. Heinze war, stellte nicht nur sich nicht vor (was sie in einem zweiten Anlauf immerhin nachholte) – sie vergass auch den anwesenden Regisseur und die Produzenten zu begrüßen. Ein peinlicher Fauxpas.

Immerhin – die Schauspieler Michael Nyqvist und Noomi Rapace-Norén vergaß sie nicht. Und die erhielten ihren Vorschuss-Applaus vollkommen zu recht. Die filmische Umsetzung von „Verblendung“ ist kongenial gelöst. Natürlich kann ein so komplexer Stoff nicht vollständig abgebildet werden – aber seine Essenz hat Regisseur Niels Arden Oplevs grandios eingefangen. Er schafft es mit einer unglaublich guten Besetzung die zerstörerischen und befreienden Kräfte von Gewalt und Hass und Sexualität gleichermaßen abzubilden. Ein erschreckender, grausamer, komischer Film – besser als der Durchschnittsthriller, so wie Stieg Larssons Bücher auch besser sind als die eines schwedischen Durchschnittskrimiautoren.

Apropos: "Zum Glück bin ich nicht der Autor", konterte Nicolaj Lie Kaas, Hauptdarsteller von "The Candidate" - und lächelte aufkommende Kritik an dem Thriller einfach spitzbübisch weg. Beim After-Film-Talk im - nicht ganz gefüllten - Saal 1 des Cinemaxx hatte ein Gast angemerkt, dass er das Ende etwas einfallslos fand. Leider konnte diese Diskussion nicht vertieft werden. Denn vor den Türen drängten sich schon die Zuschauer für "Verblendung". Zeitlicher Luxus ist beim hochtourigen Filmfest halt Mangelware. Allerdings nicht in Dänemark.

"Wir hatten zwei Monate Zeit, uns auf den Dreh vorzubereiten. Wir Schauspieler haben mit dem Regisseur viel geredet, geprobt - und noch mal viel geredet", erzählte Kaas. Zwei Monate. In Film-Zeitrechnung ein Luxus. Und Dänemark scheint in dieser Hinsicht ein gut betuchtes Land zu sein. Denn, so erläuterte Kaas: In seiner Heimat sei es relativ normal, sich so ausgeruht mit einem Kino-Projekt zu befassen. Bei "The Candidate" hat Regisseur Kasper Barfoed die lange Vorbereitungsperiode vor allem dazu genutzt, ein ästhetisch ausgefeiltes Drama zu inszenieren. Als "choreographiert" bezeichnet Kaas das. Perfekt gestylt und durchgeplant könnte man es auch nennen. Bei der Arbeit vor und hinter der Kamera sei keine solche Eigendynamik entstanden wie etwa beim Dreh von Komödien, erinnert sich Kaas. Stattdessen ist eine Art Arthouse-Variante von "Dr. Kimble auf der Flucht" entstanden. Ein - mitunter vertracktes - Psychospiel um Macht und Moral, Familien und Fehden.

Doch das Filmfest ereignet sich bei Weitem nicht nur in der feinen City. Es lohnt sich zum Beispiel sehr, auch mal eine kleine Reise nach St. Georg zu unternehmen, wo sich im Metropolis am Steindamm die ein oder andere Filmperle verbirgt. Am Nachmittag schlängelt man sich hier vorbei an Nutten und durch die Großstadt treibenden Tagedieben. Das nehmen nicht viele auf sich. Knapp 20 Filminteressierte bevölkerten Dienstag das schön restaurierte Foyer des Filmtheaters. Aber es ist ja auch kein Bollywood-Blockbuster, der hier lief, wo die Fülle, der Lärm, das überbordende Leben und die Begeisterung ein Teil der Leinwandperformance sind.

„Firaaq“ ist der Versuch der Schauspielerin und Regiedebütantin Nandita Das, von den zwischenmenschlichen Beziehungen hinter dem Massaker von Hindus an Moslems im indischen Staat Gujarat 2002 zu erzählen. Der historische Schrecken ist in den schwarzen Höhlen der ausgebrannten Behausungen spürbar. Und birgt doch erleichternde, versöhnliche Momente, in denen sich die Menschen in ihren Ehen und Freundschaften gegen von religiösem Eifer erzwungene Gräben zur Wehr setzen.

Ein Tipp noch für Unentschlossene: Wer einmal Cineastenluft schnuppern möchte, aber noch kein Ticket hat, dem sei die Festival-Lounge der Ponybar neben dem Abaton-Kino empfohlen. Unterm weißen Zeltdach fügen sich da zwei Filme zu einem: heitere Studentenkomödie trifft auf Intellektuellen-Slapstick mit theoretischen Einschüben. Das bietet auch ohne Eintrittskarte gute Unterhaltung.

Übrigens: Cineastische Wiederholungstäter können Nikolaj Lie Kaas am 30. September um 21.45 Uhr im Zeise noch einmal live erleben - bei der Präsentation der Abenteuerkomödie "At World's End". Und auch "The Candidate" ist erneut zu sehen - und zwar am 1. Oktober um 17.30 Uhr, ebenfalls im Zeise in Ottensen.