Heute startet eine Reihe mit türkischen Produktionen. Abseits türkischer Blockbuster wie “Tal der Wölfe“ öffnen die Festivalbeiträge eine Tür zu fremden Lebenswelten.
Hamburg. "Kein Kurdisch im Klassenraum", lautet die Regel. Leichter gesagt als getan, schließlich sprechen die kurdischen Kinder in der Dorfschule im Osten des Landes kaum ein Wort Türkisch. Verständnislose Blicke, unkonzentriertes Fummeln an Stiften und Büchern, verschämtes Auf-den-Boden-Schauen - mit diesen Reaktionen wird der junge türkische Lehramtsanwärter Emre dutzendfach konfrontiert. Und macht die verstörende Erfahrung: Er ist ein Fremder im eigenen Land.
"On the way to school" heißt der erste abendfüllende Dokumentarfilm des jungen Regieteams Orhan Eskiköy und Özgür Dogan, der heute die lose Reihe von türkischen Filmen des Hamburger Filmfests mit insgesamt sechs Produktionen eröffnet. Entfernt erinnert die Dokumentation an Laurent Cantets "Die Klasse", der 2008 beim Filmfestival in Cannes die Goldene Palme gewann. Sie geht jedoch, anders als die Teenager-Beobachtung, über die Geschehnisse im Klassenraum hinaus, zeigt die ärmlichen Lebensverhältnisse der Schulkinder sowie Emres Telefonate mit seiner Mutter, in denen er seine Erlebnisse in Worte zu fassen versucht. Ein Film über ein Land voller Gegensätze, gefangen zwischen Tradition und Moderne.
Verstörender, eindringlicher noch nimmt sich "Min Dit - Die Kinder von Diyarbakir" aus, das Spielfilmdebüt des kurdischstämmigen Regisseurs Miraz Bezar, der mit neun Jahren mit seiner Familie nach Bremen emigrierte und heute in Berlin lebt. Fatih Akin ist Koproduzent des Films, der vor zwei Tagen auf dem Filmfestival im spanischen San Sebastian lief und, noch wichtiger, im Oktober in Antalya zu sehen sein wird, dem wichtigsten Filmfestival der Türkei.
Dass "Min Dit" hierher eingeladen wurde, gilt als kleine Sensation und war lange ungewiss - ein kurdischsprachiger Film, der ein Thema behandelt, das bislang tabuisiert wurde. Er erzählt von einem Staat, der seit den 90er-Jahren geschätzte 80 000 seiner eigenen Bürger umbringen oder verschwinden ließ. Nicht nur Mitglieder der verbotenen PKK, sondern einfache Leute. Wie die Eltern des Geschwisterpaars Firat und Gülistan. Von der Rückbank des Autos aus müssen die Kinder mitansehen, wie die Eltern ermordet werden - mit einem Kopfschuss. Fortan schlagen sie sich auf der Straße durch, machen Erfahrungen mit Gewalt und Prostitution. "Min Dit" ist konsequent aus der Kinderperspektive erzählt und somit auch der Versuch, "eine Generation zu verstehen, die ein schweres Erbe mit sich trägt", sagt Regisseur Bezar. Sein Ziel sei, Licht in eine dunkle Vergangenheit zu bringen: "Nur, wenn man darüber spricht, können Wunden heilen."
Während hierzulande vor allem kommerzielle türkische Blockbuster wie "Tal der Wölfe" ins Kino kommen, ist es das große Verdienst von Festivals, Filmen wie "On the way to school" oder "Min Dit" ein Forum, eine Öffentlichkeit zu bieten. Filmen, die - mit eindringlicher Genauigkeit in dem einem, in poetischen Bildern in dem anderen Fall - dem Zuschauer ein Land und seine Bewohner näherbringen und die Tür zu unbekannten Lebenswelten öffnen.
On the way to school : 25.9., 19 Uhr, Metropolis; 1.10., 19.30 Uhr, Zeise 2.
Min Dit : 28.9., 22 Uhr, Metropolis; 3.10., 19.30 Uhr, Zeise 2