Gralshüter: Er wacht über das Vermächtnis seines Großvaters Richard im Festspielhaus von Bayreuth. Hier spricht er über Schlingensiefs wunderlichen “Parsifal“ und über seine Ansprüche an die kommenden Inszenierungen.
Bayreuth. Bayreuth im Winter. Der Grüne Hügel ist weiß verschneit. Wo sommers zur Festspielzeit sich befrackte Gäste um die Würstchenstände drängen, pfeift der kalte Wind aus dem Fichtelgebirge. Wo sonst Wagner-Freaks aus aller Welt mit einem "Suche Karte"-Karton um den Hals vom Eintritt in ihr Mekka, pardon: Walhall träumen, suchen Krähen etwas zum Futtern - Wotans Raben sehen anders aus.
Der Hügel ruht, aber er ist nicht ausgestorben. 16 Mitarbeiter vom technischen Personal tüfteln an der Bühne für die "Tristan"-Premiere am 25. Juli. Sie haben für die Nacht der Liebe am Computer einen Sternenhimmel gezaubert, der alles in den Schatten stellen soll, was bisher an Nachtbildern auf einer Opernbühne zu sehen war.
Festspielchef Wolfgang Wagner hat in diesem Stadium noch alle Zeit der Welt, sein Haus zu zeigen, das der Großvater erdachte: In breitem Fränkisch erklärt er den magischen, verdeckten Orchestergraben, die Riesenbühne und die aus Tuch gespannte Decke über dem Zuschauerraum, die das Klangwunder Bayreuth im gemeinsamen Akkord mit dem Holzfußboden des Amphitheaters und dem tiefen Graben akustisch erst möglich macht.
Der 85jährige, der allein mehr als 1100 Vorstellungen in seiner jetzt 55jährigen Amtszeit betreute und zwölf Produktionen (darunter den "Ring") selber inszenierte, fühlt sich in seinem Element. Er ist Regisseur und Organisator, Inspizient und Hausmeister in einem. Die Reporter haben einige Mühe, seinem Tempo über Gänge, Treppen und Stege zu folgen. Und bereitwillig folgt er den Bitten von Abendblatt-Fotograf Michael Zapf - ein Profi durch und durch.
ABENDBLATT: Herr Wagner, der letztjährige, wunderlich symbolbefrachtete "Parsifal" von Regisseur Christoph Schlingensief hat Turbulenzen verursacht; es wurden Anwälte eingeschaltet, jetzt ist sogar von einem Hausverbot für Schlingensief die Rede.
WOLFGANG WAGNER: Also das mit dem angeblichen Hausverbot ist dummes Zeug. Das Problem ist: Schlingensief hat bei den Proben ständig geändert. Jeden Tag hat er etwas anders gemacht als am Tag vorher. Das hat natürlich sehr viel Geld gekostet. Nun hat er im Vertrag, daß er im zweiten Jahr für Veränderungen nur einen bestimmten Betrag und eine bestimmte Probenzeit zur Verfügung gestellt bekommt.
ABENDBLATT: Wie lange darf er in diesem Jahr die Werkstatt Bayreuth nutzen?
WAGNER: Drei Wochen.
ABENDBLATT: Wird er das wahrnehmen?
WAGNER: Ich erwarte ein Gespräch mit ihm. Er ist ja nicht ganz einfach.
ABENDBLATT: Sie gelten als jemand, der auch nicht gerade als einfach beschrieben wird im Umgang mit anderen Menschen. Wenn zwei Charaktere wie Sie beide aufeinander treffen, gab es da einen Moment, wo Sie dachten, jetzt lassen wir es besser?
WAGNER: Überhaupt nicht. Schauen Sie, ich habe ihn ja für Bayreuth engagiert, und damit habe ich ihm - auch vertraglich - zugesichert, daß er vollkommene künstlerische Freiheit bei seiner Arbeit hat. Er hat mir ja auch vorher sein Konzept vorgelegt.
ABENDBLATT: Was haben Sie sich erhofft, als Sie ihn engagiert haben - er hat ja einen Ruf wie Donnerhall?
WAGNER: Wir brauchen originelle Köpfe, ich will doch neue Ideen bringen. Dem Parsifal haftet ja etwas der Ruf des Sterilen an. Daß Schlingensief begabt ist, steht außer Frage. Ich habe mir gesagt, der hat viel Phantasie, die soll er jetzt mal rauslassen. Wagner kann ja viel vertragen an Einfällen auf der Bühne, das könnte also ganz gut gehen.
ABENDBLATT: Die Resonanz beim Publikum und in der Presse war ja denn auch entsprechend.
WAGNER: Das war fifty-fifty. Die einen meinten, das sei gut für Bayreuth, die anderen dachten "was will denn der da?" Aber es gab auch Sänger, die sich weigerten, ein Wiederholungsjahr mit Schlingensief zu machen.
ABENDBLATT: Endrik Wottrich zum Beispiel, der Sänger der Titelfigur. Was war der Grund?
WAGNER: Der Regisseur hat eine sehr eigenwillige Art zu arbeiten. Das kostet sehr viel Zeit. Sehen Sie, den ersten Auftritt hat er anderthalb Stunden probiert.
ABENDBLATT: Hat's Ihnen da nicht in den Fingern gejuckt, haben Sie da nicht doch eingegriffen?
WAGNER: Ich hab' zu ihm gesagt: Ein Auftritt ist ein Auftritt. Daß der "Parsifal" auf die Bühne muß, ist ja wohl klar. Lassen Sie doch erst einmal die Leute auftreten, dann müssen Sie sie bewegen. Sie brauchen doch nur zu sagen "Kommen Sie langsam herein oder kommen Sie schnell herein - stellen Sie sich da hin oder dort." Und dann geht die Regie los.
ABENDBLATT: In Hamburg wollte Schlingensief vor einiger Zeit über "Die 100 Tage" Bayreuth referieren, meinte dann aber, darüber dürfe er nichts sagen. Gab es einen Maulkorberlaß?
WAGNER: Es gab keinen Maulkorberlaß, aber er hat schon vor der Aufführung so viel darüber geredet. Das habe ich in 55 Jahren Bayreuth noch nie erlebt, daß einer vor der Premiere andauernd in der Presse über seine Arbeit redet.
ABENDBLATT: Manche Sänger schienen ziemlich unglücklich zu sein, immer am Rand der übervollen Drehbühne hin- und hergefahren zu werden.
WAGNER: Das ist sicher richtig, glücklich waren sie nicht immer.
ABENDBLATT: Wenn er immer wieder alles umgeschmissen hat, wie haben die Sänger reagiert? Da gab es doch Reibereien.
WAGNER: Die Sänger haben dann gesagt: "Hör mal zu, das geht so nicht, der Text ist anders und die Musik auch." Er war dann so schlau, daß er einlenkte und sagte: "Gut, dann machen wir es eben so." Unterbewußt wird er gemerkt haben, daß die Sänger das Stück doch besser kennen, als er es vielleicht erwartet hatte.
ABENDBLATT: Und wie war das nun mit dem "Maulkorb"?
WAGNER: Ich hatte Herrn Schlingensief gebeten, vor der Premiere möglichst wenig Lärm um sich zu machen, er sollte die Leistung für sich sprechen lassen. Wenn das Publikum sich ein Bild vom Ganzen gemacht hat, kann einer reden, soviel er mag. Es sollte also nicht die Person im Vordergrund stehen, sondern die Sache.
ABENDBLATT: Wird das in diesem Jahr leichter?
WAGNER: Er wird schon aufpassen. Im übrigen sind gewisse Effekte schnell verbraucht.
ABENDBLATT: Nach der "Parsifal"-Premiere im vorigen Juli haben Sie auf der Pressekonferenz frohlockt "Das Experiment ist geglückt". Ist da bei uns ein falscher Eindruck entstanden?
WAGNER: Nein, aber wie gesagt: das Resultat war insgesamt fifty-fifty. Ich stelle mich immer vor meine Leute. Ich beschmutze doch nicht das eigene Nest.
ABENDBLATT: Wer hat bei der "Parsifal"-Premiere mehr gezittert, Schlingensief oder Sie?
WAGNER: Ich zittere nie bei einer Premiere. Da muß ich absolute Ruhe ausstrahlen. Wenn ich Nervosität zeige, wie soll ich denn die Nervosität von den anderen wegnehmen? Wenn ich es so machte wie manch anderer Regisseur, der in der Aktpause schon mit der Manöverkritik anfängt, dann wäre das Chaos doch total. Das kann man hinterher machen.
ABENDBLATT: Würden Sie sich noch mal auf ein solches Experiment einlassen?
WAGNER: Ich habe meinen Garten bestellt. Die nächsten Aufgaben sind vergeben an Leute, von denen ich auf Grund meiner Erfahrungen weiß, daß bestimmte Querelen wie im letzten Jahr nicht mehr geschehen.
ABENDBLATT: Haben Sie auch an Peter Konwitschny gedacht, der sich mit Wagner-Inszenierungen einen Namen gemacht hat?
WAGNER: Ich habe mit ihm verhandelt, aber was er mir gesagt hat, das fand ich für mich nicht so überzeugend.
ABENDBLATT: Wie sind Sie auf Tankred Dorst gekommen, der im nächsten Jahr den "Ring" inszenieren wird?
WAGNER: Er schreibt und ist Theaterdramatiker. Deshalb hat das Wort bei ihm eine besondere Bedeutung. Da ja bei Wagner Text und Musik eine Einheit bilden, kann bei ihm bestimmt sehr Interessantes herauskommen. Durch die Alliterationen in den Werken Richard Wagners ist ja übrigens schon ein gewisser Stil festgelegt. Was für mich auch ein Grund ist, weshalb man den "Ring" nicht modisch vordergründig aktualisieren sollte.
ABENDBLATT: Da sind Sie mit Christian Thielemann einer Meinung, der den "Ring" dirigieren wird und sich "endlich mal wieder einen Wotan ohne Aktentasche" wünscht. Ist das eine Reaktion auf Schlingensief?
WAGNER: Nein. Richard Wagner hat den "Ring" zeitlos im Reich der Phantasie angesiedelt, da muß man mit modernen Accessoires nicht gleich mit allen Mitteln darauf hinweisen, daß das auch heute noch gilt.
ABENDBLATT: Es gibt ein Zitat von Ihnen, dem zufolge in Bayreuth kaum jemand mit der "Götterdämmerung" fertig wird, weil er zuvor zuviel Zeit mit den anderen "Ring"-Teilen verbracht hat. Gilt das noch?
WAGNER: Auf jeden Fall. Obwohl die "Götterdämmerung" ja eigentlich eine ganz klare Angelegenheit ist.
ABENDBLATT: Sie haben nicht nur mit neuen Regisseuren überrascht, sondern auch mit Eiji Oue, Sebastian Weigle und Marc Albrecht neue Dirigenten an den Grünen Hügel geholt und so die internationale Bayreuther Standard-Formation Levine-Barenboim-Thielemann verändert.
WAGNER: Szenische und musikalische Erneuerung müssen stets Hand in Hand gehen, denke ich. Das ist ein Grundzug der Bayreuther Arbeit.
ABENDBLATT: Bayreuth-unerfahrene Dirigenten werden sich schwertun, mit dem verdeckten Orchestergraben zurechtzukommen.
WAGNER: Sie müssen dem Orchester entsprechend dirigieren, Erfahrung hin, Erfahrung her. Hier müssen die Dirigenten versuchen, die in sich geschlossene Klangwolke zu erhalten, sie auf der Bühne mit den Sängern zu vereinen und gemeinsam ins Publikum zu bringen.
ABENDBLATT: Wie eng arbeiten Dirigenten und Regisseure hier zusammen?
WAGNER: Hier ist der Dirigent von Anfang an bei den Proben dabei. Das ist nicht so, wie in vielen anderen Häusern üblich, wo der Dirigent erst zur Hauptprobe auf der Bühne erscheint.
ABENDBLATT: Ist es schwer, die geeigneten Sänger zu bekommen?
WAGNWE: Es ist immer noch so, daß man gerne nach Bayreuth kommt. Man gilt hier etwas. Das macht sich vor allem auch an den Kosten bemerkbar: Unsere Gagen sind nur halb so hoch wie an anderen großen Häusern wie etwa München. Hier wird gearbeitet, anderswo wird verdient, sagte einst schon Astrid Varnay.
ABENDBLATT: Gibt es Künstler, die Sie nicht kriegen, obwohl Sie sie gerne hätten?
WAGNER: Es gibt natürlich Dirigenten, hinter denen man jahrelang hinterherläuft, weil sie ständig ausgebucht sind. Das Engagement eines Dirigenten ist fast risikoreicher als das eines Sängers. Die haben es hier leichter; bei uns brauchen sie nicht die übergroßen Stimmen wie anderswo, wo sie brüllen müssen. Das ist akustisch hier nicht notwendig.
ABENDBLATT: Obwohl es auch hier mitunter vorkommt. Aber wenn Sie einmal träumen - wen würden Sie sich wünschen?
WAGNER: Ich träume nur so weit, wie ich es realisieren kann.
ABENDBLATT: Es soll ein ungeschriebenes Gesetz geben, wonach Sänger, die auch in Salzburg singen, nicht mehr auf den Grünen Hügel geladen werden. Ist da etwas Wahres dran?
WAGNER: Aber nein, die haben da doch ganz andere Sängertypen. Die brauchen keine Wagnertypen, weil sie keinen Wagner zur Festspielzeit machen. Weil es keine Überschneidungen gibt, kommen wir mit den Leuten dort sehr gut aus. Und wenn sich Sänger entscheiden müßten, habe ich den Eindruck, daß sie lieber hierher kommen. Salzburg ist anonymer, Bayreuth persönlicher.