Seine Heimat ist die Literatur, er ist seit Jahren der einflussreichste deutsche Literaturkritiker. Marcel Reich-Ranicki spricht im Abendblatt über seine Kindheit in Polen, seine Zeit im Ghetto und erzählt, warum er nach Deutschland ging. Bilder von Marcel Reich-Ranicki.

Frankfurt. "Er hat etwas so Definitives", hat ein Kollege einmal über Marcel Reich-Ranicki gesagt und damit zweifellos eine genaue und umfassende Charakterisierung des wohl bedeutendsten deutschen Literaturkritikers geliefert. Keiner kämpft so leidenschaftlich, anschaulich und unterhaltsam für die Literatur, die er einem breiteren Publikum nahezubringen versucht, wie der heute 88-jährige Marcel Reich-Ranicki. Sein rollendes R in Kombination mit dem gelispelten S, eine Stimme, die durch viele Tonlagen gleiten und mal bellen, mal zärtlich schmeicheln kann, die fiebrige Leidenschaft seiner barocken Gesten, das listig-neugierige Neigen des kahlen, bebrillten Kugelkopfes, der drohende, an Gottvater gemahnende Zeigefinger - all das ist MRR. Reich-Ranickis Urteile sind oft mit schamloser Schärfe, immer aber eindeutig, subjektiv, unmissverständlich geschrieben. Neben den Rezensionen hat er immer wieder neue Formate für Rundfunk, Zeitungen (Frankfurter Anthologie), Lesewettbewerbe (Ingeborg-Bachmann-Preis) und Fernsehen erfunden, von denen das bekannteste sicher das "Literarische Quartett" ist, das er 13 Jahre lang im ZDF leitete. Aber wer ist Marcel Reich-Ranicki? Diese Frage hat ihm 1958 als Erster Günter Grass gestellt. "Was sind Sie denn nun eigentlich - ein Pole, ein Deutscher oder wie?" Reich-Ranicki antwortete rasch: "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude." Doch in Wahrheit, so hat er sich später korrigiert, war und ist seine Heimat immer die Literatur.

Knapp 100 Bücher hat er geschrieben oder herausgegeben, alle zu literarischen Themen. Nur ein einziges Mal hat er Prosa geschrieben, seine Autobiografie "Mein Leben", die 1999 erschien. Die Geschichte seiner jungen Jahre, als Marceli Reich - so hieß er damals - aus Polen an ein Berliner Gymnasium kam, von den Nationalsozialisten 1938 nach Polen deportiert wurde, im Warschauer Ghetto landete und als einer der wenigen von 450 000 Juden mit seiner Frau fliehen konnte und anderthalb Jahre im Keller eines Polen versteckt überlebte, erzählt Regisseur Dror Zahavi in seinem Film nach Reichs Autobiografie. Arte zeigt "Mein Leben" am 10.4. (21 Uhr), die ARD am 15.4. (20.15 Uhr) mit Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler in den Hauptrollen. Wir sprachen mit Marcel Reich-Ranicki über den Film und sein Leben.


Hamburger Abendblatt:

Ist der Film über Ihr Leben gelungen?

Marcel Reich-Ranicki:

Ja. Ich habe dem Filmteam vorher gesagt: "Verfilmt nicht das Buch, macht einen guten Film." Das ist ihnen gelungen. Ich wollte mich nicht einmischen. Die Frage, die mich vorher am meisten beunruhigt hat, war, ob die beiden Hauptdarsteller passen würden. Ich muss sagen: Sie sind fabelhaft.



Abendblatt:

Dem Film, noch mehr als Ihrem Buch, kann man entnehmen, dass Sie ein sehr artiges Kind waren. Es war wirklich eine andere Zeit damals, Kinder haben viel gelesen, waren folgsam. Sie sind als Neunjähriger von Polen nach Berlin geschickt worden. Hatten Sie keine Angst?

Reich-Ranicki:

Nein. Ich kam ja zu Verwandten, meinem Onkel. Ich sprach zwar anfangs nur Polnisch, aber meine Mutter war ja in Preußen aufgewachsen. In der Schule habe ich mich dann allerdings als Außenseiter gefühlt. Schon bei der Frage nach meinem Geburtsort, dem polnischen Wloclawek, wurde gelacht. Ich passte nicht zu den anderen. Ich war immer ein Außenseiter. Auch in Polen, als ich dorthin zurückkam aus dem Dritten Reich.



Abendblatt:

Über Ihre Mutter schreiben Sie am Anfang Ihres Buches: "Sie war nicht sehr sprachgewandt. Bis zum Ende ihres Lebens, bis zum Tag, an dem man sie in Treblinka vergaste ..." Hier stockt man beim Lesen. Wie lange hat es gedauert, bis Sie diesen Satz schreiben konnten?

Reich-Ranicki:

Es hat eine Minute gedauert. So war es doch. So ist meine Mutter umgekommen und auch mein Vater. Bei meinem Bruder weiß ich es nicht genau. Er wurde wahrscheinlich erschossen. Der Vater meiner Frau hat Selbstmord verübt.



Abendblatt:

Sie haben erst sehr spät Ihre Autobiografie geschrieben. Warum?

Reich-Ranicki:

Meine Frau hatte mir schon im Krieg gesagt: Wenn wir das überleben, musst du es aufschreiben. Ich habe geantwortet: Nein, bestimmt nicht. Dazu bin ich nicht imstande. Das, was ich im Krieg und im Ghetto erlebt habe, ist sehr schwer darzustellen. Nach dem Krieg hatte ich andere Arbeiten und habe nicht mehr daran gedacht, mein Leben aufzuschreiben. Erst viel später hat mich ein Verleger angesprochen und überzeugt. Ich wollte aber noch nicht. Ich hatte dann einen Vortrag über das Thema Heimat zu halten, habe 40 Seiten geschrieben und da wurde mir klar: Wenn ich das erweitere, ist das Buch fast fertig.



Abendblatt:

Zurück zu Ihrer Jugend. Sie wollten Ihr Außenseitertum durch Wissen und Können beenden. Haben Sie deshalb so viel gelesen?

Reich-Ranicki:

Zuerst hat mich ja Mathematik fasziniert. Das ging am schnellsten, da war ich gleich der Beste in der Klasse. Und dann begann auf dem Umweg über das Theater die große Schwäche und Liebe für die Literatur.



Abendblatt:

Ein Exkurs: Ihr Sohn ist ein anerkannter Mathematiker in der Fachrichtung ...

Reich-Ranicki:

Topologie. Aber was das genau ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn mal gefragt: Wie viel Zeit brauchst du, um mir zu erklären, was Topologie ist? Er hat geantwortet: Bei dir - drei Monate. Später habe ich mal einen Mathematiker im Zug getroffen und ihn nach der Topologie gefragt. Er hat es mir erklärt. In drei Minuten. Mein Sohn hat geantwortet: Ja, aber das war kein Topologe.



Abendblatt:

Wie war es möglich, dass Sie die viele Lektüre, die Sie als junger Mann gelesen hatten, so behalten konnten, dass Sie die Romane und Theaterstücke Jahre später, als Sie im Keller bei den Polen versteckt waren, nacherzählen konnten?

Reich-Ranicki:

Ich weiß es nicht. Es ist auch für mich unfassbar, wie viel ich in meiner Schulzeit in Berlin lesen konnte. All die Romane von Tolstoi, Dostojewski, Balzac, Stendal, die Stücke von Shakespeare, Lessing, Schiller, Kleist. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich als Jude in der Schule von bestimmten Veranstaltungen ausgeschlossen war und deshalb viel Zeit zum Lesen hatte. Und behalten habe ich es, weil es mir gefallen hatte. Ich muss aber sagen, dass ich als Jude in der Schule sehr gut behandelt worden bin.



Abendblatt:

Die Literatur hat Ihr Leben gerettet. Den Polen, die Sie nach Ihrer Flucht aus dem Ghetto versteckt hatten, haben Sie abends Theaterstücke und Romane nacherzählt und dabei die Werke natürlich interpretiert. War das, bei aller Unerträglichkeit der Situation, die Schule für Ihre spätere Arbeit als Kritiker?

Reich-Ranicki:

Ja. Ich habe an der Reaktion gemerkt, was ankam und was nicht.



Abendblatt:

Die polnische Familie, die Sie und Ihre Frau versteckt hatte, ist erst nach deren Tod in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Ihre Lebensretter geehrt worden. Warum?

Reich-Ranicki:

Nach unserer Befreiung hat mir der Mann etwas Erschütterndes gesagt. Er hat mich darum gebeten, niemandem zu sagen, dass er uns versteckt hatte. Er sagte: Ich kenne die Polen. Sie würden es mir nie verzeihen.



Abendblatt:

Haben Sie nach dem Krieg antisemitische Erfahrungen in Polen gemacht? Wann waren Sie zuletzt dort?

Reich-Ranicki:

Vor 50 Jahren. Ich bin 1958 weggegangen, war nie wieder dort. Aber es hat mich auch nie mehr jemand nach Polen eingeladen.



Abendblatt:

Aber Sie sprechen mit Ihrer Frau noch Polnisch?

Reich-Ranicki:

Ja.



Abendblatt:

Zurück zu Ihrem Leben: Sie hatten als Schüler und auch später meist sehr viel ältere Frauen als Freundinnen. Sie müssen ein sehr reifer junger Mann gewesen sein.

Reich-Ranicki:

Ja, ja, ja.



Abendblatt:

Sie mussten Jahre Ihrer Jugend im Ghetto verbringen. Haben dort Ihre Frau kennengelernt. Hat man denn unter diesen Umständen Zeit für Zärtlichkeiten?

Reich-Ranicki:

Ja, aber wir haben gewusst, dass man uns unsere Jugend gestohlen hatte.



Abendblatt:

Sie sind 1943, nachdem schon fast alle Bewohner des Warschauer Ghettos ermordet worden waren, von dort geflohen. Warum nicht eher?

Reich-Ranicki:

Wohin hätten wir fliehen sollen? Wovon leben? Wir hatten keine Freunde außerhalb des Ghettos. Jeder Helfer wurde ja mit dem Tode bestraft.



Abendblatt:

Wie konnten Sie 1958 in die Bundesrepublik gehen, wo Sie doch dort täglich Menschen begegnen konnten, die Sie zehn Jahre zuvor noch ermorden wollten?

Reich-Ranicki:

Der Film über mein Leben hat das fabelhaft gelöst. Man sieht dort Menschen an mir vorbeigehen, die mich im Krieg bedroht haben, und man weiß nicht, ob ich mir das nur einbilde. Jetzt muss ich Ihnen dazu aber Folgendes erzählen: Ich bin 1958 nicht nach Deutschland gegangen. Der erste Gedanke war umgekehrt: Ich will weg aus Polen. Dann war der nächste Gedanke: Wohin? Es gab nur zwei Länder, in die ich legal gehen konnte, Israel und Deutschland. Was ich in Deutschland tun würde, wusste ich nicht. Vielleicht Dokumente übersetzen. Ich bin zur "FAZ" und zur "Welt" gegangen und habe Bücher zum Rezensieren bekommen. So ist es losgegangen. Jahre später habe ich gemerkt, woher ich meinen Stil hatte. Ich hatte in der Jugend so viel von Polgar, Tucholsky, Kerr gelesen. Ich war unter dem Einfluss deutscher Kritiker.



Abendblatt:

War Ihre Frau damit einverstanden, nach Deutschland zu gehen?

Reich-Ranicki:

Nein! Aber sie hat letztlich immer getan, was ich wollte.