Matthias Schweighöfer spielt in “Mein Leben“ die Rolle des Literaturkritikers - ohne dessen Akzent, aber mit hoher Glaubwürdigkeit.
Köln. Matthias Schweighöfer ist erschöpft, jetzt, da er seit zehn Stunden am Set ist und noch eine weitere Szene drehen muss. Das Verhör war anstrengend, sagt er zur Begrüßung und zündet sich eine Zigarette an. Viel Text aufzusagen. Ein Duell Mann gegen Mann. Vielleicht ist Schweighöfer körperlich hier, in der Alten Bahndirektion in Köln, anwesend; mit dem Kopf aber ist er im Jahr 1949, in Warschau, genauer: im Innenministerium. Zu dieser Zeit, an diesem Ort wird ein gewisser Marcel Reich-Ranicki von zwei Mitarbeitern der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei vernommen und wegen "ideologischer Entfremdung" aus der Partei ausgeschlossen.
Die Meldung sorgte für Erstaunen: Schweighöfer spielt Reich-Ranicki, den "Papst" der Literaturkritik. Dessen Autobiografie "Mein Leben" hat sich 1,3 Millionen Mal verkauft und wird seit dem 3. Juli verfilmt. "Mein Leben", das ist für Schweighöfer deshalb dieser Tage das Leben von Marcel Reich-Ranicki. Jeder, der nur eine Handvoll biografischer Eckdaten und das Temperament von Reich-Ranicki kennt, kann sich vorstellen: keine einfache Rolle. Vielmehr ein schauspielerischer, ein emotionaler Kraftakt.
Es sei das "Herausforderndste, was ich bislang als Schauspieler gemacht habe", ließ Schweighöfer verlauten, als bekannt wurde, dass er die Rolle spielen würde. "Ich möchte der Person Marcel Reich-Ranicki unbedingt gerecht werden", erzählt er jetzt. "Ihm ist so viel passiert im letzten Jahrhundert, und das zu projizieren ist sehr schwer." Wie gelingt ihm das? Er hat sich lange mit dem heute 88-Jährigen unterhalten, hat versucht, das Unbegreifliche zu verstehen: Wie war es im Warschauer Getto? Wie hat es sich angefühlt, von Geheimdienst-Mitarbeitern stundenlang verhört zu werden?
Er sei während dieser Verhöre sehr konzentriert gewesen, hat ihm der Kritiker verraten. Hoch konzentriert ist auch Schweighöfer - im Gespräch, aber vor allem, sobald Regisseur Dror Zahavi "Und bitte" ruft. Anspannung: ja, Nervosität: nein. "Anfangs hat mich die Rolle nervös gemacht", sagt Schweighöfer, "aber davon muss man sich irgendwann frei machen, sonst kann man nicht spielen." Den reich-ranickischen Akzent hat er nicht übernommen: "Ich will nicht, dass es eine Art Parodie wird", sagt er. Er trägt Brille und Anzug, die Haare sind an den Schläfen leicht ergraut. Kontaktlinsen färben seine blauen Augen dunkelbraun. Und schmaler wirkt er; man sieht, dass er für die Rolle abgenommen hat. Sieht er aus wie Marcel Reich-Ranicki? Das Beste ist: Die Frage ist vergessen, sobald Schweighöfer zu spielen beginnt. Sobald er das tut, ist man bewegt von den Ereignissen, die hier erzählt werden - nicht ohne Grund wurde "Mein Leben" in den deutschen Feuilletons als eine der "bewegendsten Überlebensgeschichten des Holocaust" bezeichnet.
Im Vorfeld der Dreharbeiten hatte Reich-Ranicki seinen Unmut über das Projekt geäußert - zu lang dauerte ihm alles, klagte er in einem Interview. Diese öffentliche Kritik sei sehr hart gewesen, sagt Produzentin Katharina Trebitsch. Mittlerweile sei das Verhältnis ein anderes, ein sehr vertrauensvolles. Allein die Rechte für "Mein Leben" zu bekommen sei harte Arbeit gewesen, sagt Trebitsch. In Hamburg, im Hotel Vier Jahreszeiten, ist sie dem Kritiker erstmals begegnet - und scheint ihn mehr überzeugt zu haben als die vielen Mitbewerber. Vielleicht sei es "ihre Nachdenklichkeit" gewesen, vermutet die Produzentin. Wo fängt man an, die Geschichte zu erzählen, wo hört man auf? Seit Reich-Ranicki Trebitsch als Produzentin auserkoren hat, telefonieren die beiden regelmäßig. "Was gibt's Neues?", fragt er jedes Mal zur Begrüßung.
Für Matthias Schweighöfer hat sich Trebitsch um die Weihnachtszeit entschieden, als sie in Til Schweigers Komödie "Keinohrhasen" saß. Es war eine kleine Bewegung, ein Blick - sie weiß es nicht mehr genau. Als sie am nächsten Tag erneut in den Film ging, war sie sicher: Der ist es. Und der Auserwählte wollte die Rolle unbedingt, ging zu drei Castings, bis er alle überzeugt hatte.
An diesem Abend drängt die Zeit, Schweighöfer drückt seine Zigarette aus, verabschiedet sich - und fällt Sekunden später aus der Gegenwart ins Jahr 1949. Der 27-jährige Schauspieler wird wieder zum damals 29 Jahre alten Marcel Reich-Ranicki, von dessen Leben ihn nicht nur vier Jahre, sondern ganze Welten trennen. Aber Matthias Schweighöfer und Katharina Trebitsch haben verstanden, sich diesem Leben zu nähern.