Moskau. Von acht bekannten Gefangenen fehlt derzeit jede Spur. Gleichzeitig werden Urteile im Schnellverfahren gefällt. Was hat der Kreml vor?
Die russische Opposition macht sich große Sorgen: In den letzten Tagen wurden insgesamt acht prominente russische Oppositionelle aus Straflagern und Haftanstalten an unbekannte Aufenthaltsorte verlegt. Alle sind zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Darunter ist auch Wladimir Kara-Mursa, der zu 25 Jahren verurteilt ist; der höchsten Strafe, die bislang in Russland gegen einen Oppositionellen verhängt wurde.
Eine neue Schikane? Es könnte aber auch ein Indiz für einen bevorstehenden Gefangenenaustausch sein. Die Spekulationen verdichten sich. „Anscheinend stehen wir vor einem groß angelegten Gefangenenaustausch“, sagt etwa die russische Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja, die im Exil lebt, auf ihrem Telegram-Kanal.
- Verschwunden ist Oleg Orlow, der Mitbegründer der Organisation „Memorial“, die in Russland das Andenken an die Opfer des Stalinismus wachgehalten hatte und sich auch in die aktuelle Politik einmischte. „Memorial“ wurde 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
- Unbekannt ist auch der Aufenthaltsort der Künstlerin Alexandra Skotschilenko, die gegen den Krieg in der Ukraine protestiert hat. Skotschilenko hatte im Supermarkt Preisschilder gegen Antikriegs-Parolen ausgetauscht und wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.
- Verschwunden sind außerdem Lilija Tschanischewa und Xenia Fadejewa, Mitarbeiterinnen des im Straflager verstorbenen Kremlkritikers Alexej Nawalny. Gefängnisbeamte hätten sich geweigert, ihren Anwälten Fragen zu ihrem Aufenthaltsort und zum Grund der Verlegung zu beantworten, wird berichtet.
- Ebenso aus der Haft verlegt wurde Ilja Jaschin. Er wurde im Dezember 2022 wegen angeblicher Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Anwälte teilten am Dienstag mit, Jaschin sei aus seiner Strafkolonie in der Region Smolensk im Westen des Landes „an einen unbekannten Ort“ gebracht worden.
- Aus einem Gefängnis in Moskau verlegt wurde nach Angaben der Menschenrechtsorganisation OVD-Info zudem Daniil Krinari, der im April wegen angeblicher „Zusammenarbeit mit der Ukraine“ zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war.
- Unter den verschwundenen Häftlingen ist auch der Deutsch-Russe Kevin Lik. Der wegen Landesverrat verurteilte 18-Jährige sei ebenfalls aus seiner Strafkolonie weggebracht worden, berichtet das unabhängige Onlineportal Sotavision.
Deutscher Ex-Todeskandidat könnte gegen Tiergartenmörder getauscht werden
Ausgetauscht werden könnte auch der in Belarus zum Tode verurteilte Deutsche Rico Krieger. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko hat ihn inzwischen begnadigt. „Noch lebe ich, noch hat man die Zeit zu verhandeln, noch ist es nicht zu spät“, flehte Krieger im belarussischen Staatsfernsehen. „Die Regierung sollte um mich kämpfen.“
Alles schien einem exakten Drehbuch zu folgen. Erst das Todesurteil am 24. Juni. Krieger hatte einen Sprengstoffanschlag auf die belarussische Eisenbahn verübt, nach eigenem Geständnis im Auftrag des ukrainischen Geheimdienstes. Dann vermeldete das belarussische Außenministerium, „Lösungen“ seien in Sicht. Am Dienstag dann Kriegers Gnadengesuch. Und kurze Zeit später die Begnadigung. Krieger muss allerdings in Haft bleiben. Im deutschen Auswärtigen Amt zeigt man sich „erleichtert“ – vielleicht wird auch Krieger ausgetauscht.
Denn Belarus ist eng mit Russland verbündet und der russische Präsidenten Wladimir Putin hat großes Interesse am sogenannten Tiergartenmörder, der in Deutschland inhaftiert ist. 2021 verurteilte ein Gericht Wadim Krasikow zu lebenslanger Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Krasikow im Auftrag staatlicher Moskauer Stellen aus Rache einen georgischen Staatsbürger erschoss. Ein Austausch Krieger gegen Krasikow wäre denkbar.
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Verräterische Eile in Russland
Ein weiterer Kandidat ist der in Russland im Juli zu 16 Jahren Haft verurteilte US-Journalist Evan Gershkovich. Ein hastig gefälltes Urteil: Das Gericht hatte die eigentlich für August geplante Sitzung um Wochen vorverlegt. Verurteilt wurde der Reporter des „Wall Street Journals“ wegen Spionage. Gershkovich, seine Zeitung und auch die US-Regierung haben die Vorwürfe stets als haltlos zurückgewiesen. Die Eile ist ein Indiz für einen geplanten Austausch. Denn nach russischer Justizpraxis muss ein Urteil vorliegen, damit ausgetauscht werden kann.
Kremlchef Putin selbst hatte im Februar einen möglichen Austausch ins Spiel gebracht. In einem Interview mit dem rechten US-Talkshowmoderator Tucker Carlson sagte er: „Es macht keinen Sinn, ihn in Russland im Gefängnis zu halten.“ Ohne Namen zu nennen, hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow bestätigt, dass es grundsätzlich Kontakte zwischen den Geheimdiensten Russlands und der USA gebe, „um zu prüfen, ob jemand gegen einen anderen ausgetauscht werden kann“.
Doch gegen wen könnten Gershkovich und die anderen Gefangenen freikommen?
Neben dem Tiergartenmörder in Deutschland sind auch in den USA potenzielle Kandidaten inhaftiert. Der Cyberkriminelle Alexander Winnik beispielsweise. Ihm wird Geldwäsche vorgeworfen. 2017 wurde er auf Ersuchen der Vereinigten Staaten in Griechenland festgenommen, obwohl Moskau wiederholt seine Auslieferung nach Russland gefordert hatte. Oder Wladislaw Klijuschin, ein russischer Geschäftsmann, im September 2023 in den USA wegen Wertpapierbetrugs zu neun Jahren Gefängnis verurteilt.
Steht ein Gefangenenaustausch also unmittelbar bevor? Die US-Regierung sagt dazu nichts, die Bundesregierung hüllt sich in Schweigen. Und auch aus dem Moskauer Kreml gibt es bislang keine Bestätigung.