Hamburg. Hochmut kommt vor dem Fall: Die vermeintlichen Pleite-Griechen laufen den Besserwissern im Norden davon
Erinnern Sie sich noch an die Euro-Krise 2010? Damals blickte Europa in den Abgrund: Griechenland schrammte am Staatskonkurs vorbei, in das sich das Land selbst manövriert hatte. Und aus Deutschland, schon immer das Land der Dichter, Denker und Oberlehrer, kamen viele gute Ratschläge und böse Schlagzeilen: Das Nachrichtenmagazin „Focus“ machte mit einer überarbeiteten Aphrodite auf, die dem Leser den Stinkefinger zeigt.
Die „Bild“-Zeitung druckte ein „NEIN“ im Posterformat für Werkbank und Stammtische: „Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen“ hieß es da. Dabei waren die Milliarden auch eher dazu gedacht, die wankenden europäischen Banken zu retten – und den Euro. Aber das Boulevardblatt mit den großen Buchstaben war in dieser Frage eher grobmotorisch unterwegs: „Verkauft doch eure Inseln“, hieß es lapidar. „Ihr kriegt Kohle. Wir kriegen Korfu.“
Hamburger Kritiken: Griechenschelte überal
Überall bezogen die Griechen, gern als Pleite-Griechen verhöhnt, sattsam Prügel: Griechen-Renten seien unbezahlbar, die Griechen seien faul und streiken ständig, der Staatsapparat aufgebläht und die Wirtschaft nicht konkurrenzfähig. Das Problem dabei: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte wissen: drei Finger weisen auf einen selbst zurück.
Inzwischen dürfen die Griechen höhnen. Denn das Land im Südosten hat eine rasante Renaissance hingelegt. Keine andere Euro-Volkswirtschaft hat sich zuletzt so stark entwickelt. Die Wirtschaftsleistung stieg 2021 um 8,4 Prozent, 2022 waren es 5,9 Prozent, im laufenden Jahr sollen es 2,4 Prozent sein. Damit sinkt auch die hohe Verschuldung: Von einem Höchststand 2020 von 206 Prozent im Verhältnis der griechischen Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt inzwischen auf 171 Prozent gesunken und dürfte bis 2026 die Schuldenquote Italiens (144 Prozent) unterschreiten.
Möglich gemacht hat das der konservative Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, der den Menschen reinen Wein eingeschenkt hat und nun vom Wähler bestätigt wurde. Wie Deutschland mit seinen Reformen von 2003 bis 2005 hat Griechenland bewiesen, dass schmerzhafte Anpassungen sich in den Folgejahren auszahlen.
Die Griechen wählen Reformer – und wir?
Womit wir bei Deutschland wären. Langsam werden wir zu den Griechen Europas: Zunächst wählten wir 2005 den Reformer Gerhard Schröder ab, um fortan unter Kanzlerin Angela Merkel von der Substanz zu leben. Was ist eigentlich in den vergangenen 16 Jahren passiert? Auf jeden Fall zu wenig.
Unsere Infrastruktur wirkt so, wie sie in Südeuropa vor einigen Jahrzehnten aussah. Deutsche Züge kommen immer seltener pünktlich, dafür streiken wir immer mehr. Während die Direktinvestitionen in Griechenland deutlich wachsen, gehen sie hierzulande im Rekordtempo zurück. Während die Südosteuropäer 41,3 Stunden arbeiten, liegt die Bundesrepublik bei 35,3 Stunden. Heute humpelt nur noch eines der großen Länder seiner Wirtschaftsleistung von 2019 – dem letzten Vor-Corona-Jahr – hinterher. Deutschland. Wir liegen im Vergleich bei 99,5; die Griechen bei knapp 106 Punkten.
Und weil wir ja gern den Griechen Hinweise zum ordentlichen Regieren gegeben haben, könnten die Südeuropäer ja einmal den Spieß umdrehen.
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Von außen aus betrachtet, mag man über die Deutschen den Kopf schütteln: Sie stecken in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten – und stellen trotzdem ihre letzten drei Atomkraftwerke ab. Sie haben einen massiven Fachkräftemangel, aber diskutieren lieber über Vier-Tage-Woche und Bürgergeld. Sie zahlen die höchsten Leistungen für Flüchtlinge und beschweren sich bei den Nachbarn, dass die nicht ausreichend Schutzsuchende aufnehmen. Sie beklagen Bürokratie – und beschäftigen inzwischen die höchste Zahl an Staatsdienern seit 28 Jahren.
Hamburger Kritiken: Sind die Deutschen die Griechen von heute?
Kommt Ihnen das griechisch vor? Das mögen natürlich Zuspitzungen, Verzerrungen und Verkürzungen sein, aber haben wir es damals in der Krise der Hellenen so anders gemacht? Was uns das zeigt? Hochmut kommt vor dem Fall.
Statt die Welt zu belehren, wie sie zu leben und zu lieben, zu wirtschaften und zu handeln hat, sollten wir besser vor der eigenen Haustür kehren. Die eigenen Probleme anpacken und an die Arbeit gehen. Und nach Griechenland reisen mit einer Entschuldigung und der Offenheit, auch dort lernen zu können.