Hamburg. Dem Krieg wohnt die Zuspitzung inne. Wann um Himmels willen wollen wir auf Diplomatie drängen?

Krieg stumpft ab. Als am Dienstagmorgen Teile der Staumauer des Kachowka-Damms im Süden der Ukraine zerbarsten, werden manche hierzulande mit den Schultern gezuckt haben. 16 Monate nach dem Überfall der Russen auf die Ukraine haben wir uns an Hiobsbotschaften, Gräueltaten, den täglichen Horror und Terror des Kampfes längst gewöhnt. Nur wenn etwas nicht Alltägliches passiert, kehrt der Krieg in Europa auf die vorderen Plätze und ins Bewusstsein zurück.

Und es dauerte nicht lange, da wurde die Untat (oder das Unglück?) instrumentalisiert: Der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal sprach von einem „Ökozid“, einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, EU-Ratspräsident Charles Michel nannte es ein Kriegsverbrechen, der tschechische Außenminister Jan Lipavsky fühlte sich an „den Einsatz von Massenvernichtungswaffen“ erinnert.

Der Westen ist schnell mit Schuldzuweisungen

Zuzutrauen ist ein Angriff den Russen allemal – Putins Truppen haben längst jede Rücksicht fahren lassen. Und doch verwundert, wie schnell alle Beobachter ohne Beweise mit Schuldzuweisungen unterwegs waren: Auch Grünen-Chef Omid Nouripour sieht die Verantwortung bei Putin. „Es ist erdrückend deutlich, wenn man sich die Indizien anschaut, dass alles für Russland spricht.“

Als im September 2022 unbekannte Täter die Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 angriffen, hielt man Putin auch sofort für den Schurken. Inzwischen melden immer mehr US-Medien, dass ukrainische Militärkreise hinter dem Angriff stecken könnten, was sich in Teilen mit bisherigen Ermittlungen deckt. Seltsam, dass das so wenig interessiert.

Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit

Wir trauen den Russen alles Böses zu und verklären die Ukraine zu den Guten. Allein der Umgang mit den Nachrichten aus dem Kriegsgebiet zeigt, wie sehr Deutschland Partei geworden ist. Dabei wissen wir doch: Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit.

Aus der berechtigten Empörung über den Bruch des Völkerrechts durch Putin und dem Willen, dem überfallenen Land zu helfen, haben wir uns immer tiefer in einer Eskalationslogik verstrickt. Schon der Gedanke, den Aggressor vielleicht auch anders einzuhegen als mit immer mehr Waffenlieferungen an den Gegner, ist nicht korrekt. Wer zu Verhandlungen und Diplomatie aufruft, ist ein naiver Dummbart, Putin-Versteher, ja, ein Sicherheitsrisiko.

Die Gesellschaft verfällt einer militärischen Logik

Ganz ehrlich: Hätte man mir vor eineinhalb Jahren erzählt, dass nur noch die militärische Logik in unserem Land gesellschaftsfähig ist und jede Verhandlungslogik über Bord geworfen wird, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Kriegsdienstverweigerer werden Panzerfans, die größten Militaristen bekommen den lautesten Applaus, und die letzten besonnenen Stimmen kommen von ehemaligen Militärs.

Der Staudamm der Friedensfreunde ist lange geborsten. Anfänglich diskutierten wir über Helme, dann über leichte Waffen, dann über Panzer und nun über Kampfflugzeuge. Ob sich der Frieden herbeibomben lässt?

Die Wahrheit ist doch: Jeden Tag sterben in diesem unseligen Krieg Menschen, Zivilisten wie junge Soldaten, jeden Tag wächst die Zerstörung von Dörfern wie Städten, werden Infrastruktur und Natur verheert. Jeden Tag wächst der Hass auf beiden Seiten und wird ein Waffenstillstand schwieriger. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, die Eskalation zu durchbrechen?

Natürlich muss Putin für seinen Überfall bezahlen. Sein Kalkül eines schnellen Sieges ist krachend gescheitert. Der Westen muss die Ukraine nun zum Innehalten auffordern. Es ist ihr Land, das als Schlachtfeld leidet und untergeht. Ein Frieden, der kein Diktatfrieden, sondern zunächst ein Waffenstillstand ist, könnte für die Nation ein Gewinn sein.

Das Drama zeigt: Der Krieg muss schnell enden

Leider spürt man auch aufseiten der Ukraine eine Radikalisierung – menschlich nachvollziehbar angesichts der russischen Attacken. Drohnenangriffe auf Moskau, Angriffe auf russisches Staatsgebiet und zivile Ziele sowie irreguläre Kampftruppen sind Indizien, dass die Ukraine inzwischen weiterreichende Ziele hegt. Auch das ist Teil der Kriegslogik: Je länger die Kämpfe dauern, desto höher wird der Preis, den die Sieger einfordern.

Der geborstene Kachowka-Staudamm, der allen schadet, sollte die Kriegsparteien und ihre Unterstützer zur Räson rufen. Es bedarf der Diplomatie. Nicht im nächsten Jahr, im nächsten Monat oder der nächsten Woche. Sondern jetzt. Das Sterben muss ein Ende finden.