Hamburg. Hamburger Unternehmen 1komma5Grad wirbt für seinen dynamischen Tarif. Was im Detail dahinter steckt und welchen Haken es gibt.

  • 1komma5Grad sagt: „40 Prozent unserer Kunden zahlen nichts für ihren Strom“
  • Der flexible Stromtarif funktioniert aber nur mit weiteren Komponenten
  • Hamburger Unternehmen hat noch nie so viele Wärmepumpen verkauft

Die Energiewende verändert auch den Strommarkt rasant. Noch bevor alle Versorger in Deutschland ab 2025 dazu verpflichtet sind, bieten bereits etliche Unternehmen „flexible“ oder „dynamische“ Stromtarife an, die den schwankenden Börsenstrompreis abbilden. Zuletzt ging Hamburgs größter Stromanbieter Vattenfall damit in die Offensive, betonte aber, dass es dabei neben der Chance auf sehr günstigen oder sogar kostenlosen Strom auch das Risiko steigender Preise gebe.

Das Hamburger Unternehmen 1komma5Grad geht noch einen Schritt weiter und sagt: Für einen erheblichen Teil seiner Kunden mit einem dynamischen Tarif liege der effektive Strompreis bereits im negativen Bereich, sie verdienten also sogar damit. Nachdem das junge Unternehmen, das vergangenes Jahr mit dem Hamburger Gründerpreis ausgezeichnet worden war, diese offensive Ansage erstmals im Mai gemacht hatte, habe sich diese Beobachtung mittlerweile über mehrere Monate verstetigt, sagt Gründer Philipp Schröder im Gespräch mit dem Abendblatt.

Hamburger Firma 1komma5Grad: Wie Strom umsonst sein kann

„Wir beobachten jetzt über mehr als drei Monate hinweg, dass für rund 40 Prozent unserer Kunden mit dem Tarif ,Dynamic Pulse‘ der effektive Strompreis bei durchschnittlich unter null Cent je Kilowattstunde liegt“, sagt Schröder. Voraussetzung sei, dass die Kunden eine Solaranlage und einen Stromspeicher installiert haben und möglichst auch eine Wallbox und eine Wärmepumpe. Denn nur im Zusammenspiel dieser Komponenten – die 1komm5Grad im Paket oder auch einzeln vertreibt – funktioniert das Grundprinzip.

Im Idealfall läuft es so: Produziert die Solaranlage viel Strom, wird damit die Wärmepumpe betrieben, der Stromspeicher aufgefüllt oder über die Wallbox das E-Auto geladen. Überschüssige Elektrizität wird bei hohen Preisen an der Strombörse ins Netz verkauft. Umgekehrt wird sie dort nur eingekauft, wenn der Preis gerade niedrig oder sogar negativ ist. Gesteuert wird dies alles über ein unscheinbares, kleines Gerät: den „Heartbeat AI“, zu Deutsch Herzschlag. AI ist die englische Abkürzung für künstliche Intelligenz.

Mit „Heartbeat“ kann Strom auch zur Tagesschau-Zeit günstig sein

„Ohne eine Vernetzung unterschiedlicher Komponenten und ohne intelligente Steuerung haben dynamische Stromtarife kaum einen Effekt“, betont Philipp Schröder und nennt ein Beispiel: „Wenn Sie abends zur Tagesschau-Zeit fernsehen wollen, ist der Strom aus dem Netz in der Regel teuer. Verbraucher, die nur einen dynamischen Tarif haben, müssen dann auf die Tagesschau verzichten oder die hohen Preise bezahlen.“

Bei den Kunden, die außer dem dynamischen Tarif dagegen auch die anderen Komponenten haben und diese vom Heartbeat „optimieren“ ließen, wie das bei 1komma5Grad heißt, komme der Strom dann halt nicht aus dem Netz, sondern aus der Batterie, die aufgeladen wurde, als der Strom aus dem Netz günstig oder genug eigener Solarstrom vorhanden war, so Schröder: „Die meisten unserer Kunden haben dieses Prinzip verinnerlicht und kaufen daher auch gleich Hardware-Komponenten mit.“

Solaranlagen haben garantierten Betriebszeitraum von 25 Jahren

Schröder zückt sein Smartphone und demonstriert den Vorgang am Beispiel eines realen, aber anonymen Musterkunden: Laut der App produziere die Solaranlage auf dem Dach dieses Kunden zu fünf Cent je Kilowattstunde (kWh) Strom. „Wir berechnen die Anschaffungs-, Bau- und Installationskosten für die Solaranlage und die Wechselrichter geteilt durch die Menge an produziertem Strom im garantierten Betriebszeitraum von 25 Jahren – das ergibt die Kosten je produzierter Kilowattstunde“, erklärt er. Lediglich mögliche Finanzierungskosten seien in der Rechnung nicht enthalten, da sie individuell zu verschieden seien.

In der App werden die Kosten des selbst produzierten Stroms mit den Einnahmen aus dem Verkauf und den Bezugskosten für Strom aus dem Netz verrechnet und so der „effektive Strompreis“ ermittelt. Beim Musterkunden hat es sich natürlich gelohnt, sonst wäre er wohl nicht als Musterkunde ausgewählt worden. Sein Strompreis in den vergangenen 30 Tagen war negativ, unterm Strich hat er sogar rund 4,50 Euro verdient.

Im Winter zahlen auch Hamburger 1komma5-Grad-Kunden mehr für den Strom

Ein besonders positiver Einzelfall? Nein, sagt Schröder: „Unsere Garantie für den Strom aus dem Netz liegt bei 15 Cent – teurer kann es nie werden. Faktisch sind die Werte deutlich besser“, so der frühere Tesla-Deutschlandchef. „40 Prozent unserer Kunden zahlen weniger als null Cent, rund 60 Prozent liegen bei unter drei Cent, und der Durchschnitt über alle Kunden liegt bei sieben Cent pro Kilowattstunde. Zum Vergleich: Wenn Sie keine Solaranlage haben, zahlen Sie 30 Cent.“

Smart Meter
Die Installation von Smart Metern hinkt in Deutschland noch hinterher. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nun sind das Erfahrungswerte aus den Sommermonaten, aber was ist im Winter, wenn mehr Strom fossil erzeugt wird? Schröder räumt ein: „Im Sommer sind die Strompreise geringer und die Ertragswerte der Solaranlage höher. Im Winter werden die Kunden, die jetzt bei null Cent sind, wieder bei fünf oder sechs Cent liegen.“

Verbraucherzentrale Hamburg: Flexible Stromtarife grundsätzlich sinnvoll

Bei der Verbraucherzentrale Hamburg betrachtet man die Kombination aus Solarstrom und flexiblen Stromtarifen zwar grundsätzlich als klug und sinnvoll, auch im Sinne der Energiewende, sagte Energieexperte Jan Bornemann. Allerdings müsse man auch die Risiken beachten. Rückmeldungen von Kunden gebe es dazu aber noch nicht, dafür sei das Angebot wohl noch zu jung. Daher könne man die Verlässlichkeit der Versprechen einzelner Anbieter noch nicht beurteilen.

Auf lange Sicht aufgehen kann die Rechnung ohnehin erst, wenn Kunden neben einer Solaranlage auch größere Verbraucher wie eine Wärmepumpe haben und ein E-Auto oder andere Speicher, die den günstig selbst produzierten Strom auch abnehmen. Und dafür muss man erst mal in Vorleistung treten: Ein Einfamilienhaus derart aufzurüsten, koste schnell 40.000 Euro, räumt Schröder ein. Wer nur eine Solaranlage samt Technik installieren lässt, liegt eher bei 10.000 Euro aufwärts.

Philipp Schröder: „Haben noch nie mehr Wärmepumpen verkauft.“

Von einer eingebrochenen Nachfrage nach Wärmepumpen hat man bei 1komma5Grad dennoch nichts gespürt. Im Gegenteil, sagt Schröder: „Wir haben noch nie mehr Wärmepumpen verkauft.“ Allein im ersten Quartal 2024 seien es mehr gewesen als im gesamten Vorjahr. Zahlen nennt das Unternehmen dazu zwar nicht, aber der Chef betont: „Die Nachfrage wächst noch schneller als die nach Solaranlagen.“

Eine andere Zahl wird dagegen offen kommuniziert: 35.000 Systeme würden mittlerweile per Heartbeat „optimiert“, die meisten davon in Deutschland und Schweden, gefolgt von Dänemark und den Niederlanden. Insgesamt hat das erst 2021 gegründete Unternehmen, das sich selbst bereits als „europäischer Marktführer“ bezeichnet, 290.000 Systeme bei mehr als 100.000 Kunden in sieben Ländern installiert.

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Ein großes Hemmnis für weiteres Wachstum sind die fehlenden Smart Meter. Diese Geräte messen ständig den Stromverbrauch eines Haushalts – erst das erlaubt eine punktgenaue Abrechnung des tatsächlichen Verbrauchs auf Basis der gerade gültigen Preise. „Ohne Smart Meter kann der Heartbeat AI nichts regeln“, sagt Schröder. Das Problem: „Deutschland hinkt bei der Installation von Smart Metern weit hinterher, während Länder wie Schweden da schon viel weiter sind.“

1komma5Grad will auf eigene Kosten 500.000 Smart Meter installieren

In Hamburg will zum Beispiel der städtische Netzbetreiber Hamburger Energienetze erst von 2025 an ausgesuchte Kundengruppen wie Betreiber von Wärmepumpen oder große Stromverbraucher mit Smart Metern ausstatten. Wer schon früher eine neue Messeinrichtung bekommen möchte, könne dies aber beantragen und erhalte diese innerhalb von drei bis vier Wochen, so das Unternehmen. Bei 1komma5Grad will man dennoch vorsichtshalber selbst in die Offensive gehen: „Wir wollen jetzt unser eigenes Roll-out starten und bundesweit 500.000 Smart Meter installieren“, kündigt Schröder an.

Dabei bietet 1komma5Grad den Smart Meter inklusive Heartbeat sogar kostenlos an – natürlich in der Hoffnung, dass möglichst viele Kunden dann auch auf ihre Stromtarife und weitere Komponenten setzen. Ziel sei es, die Zahl von 35.000 vernetzten Wärmepumpen, Elektroautos und Stromspeichern auf mehr als eine Million zu steigern.