Hamburg. Petra Vorsteher und Ragnar Kruse sind erfolgreiche Unternehmensgründer: „Jetzt ist die Zeit, in Künstliche Intelligenz zu investieren“

Petra Vorsteher und Ragnar Kruse gehören zu den wohl profiliertesten Unternehmensgründern in Hamburg. Noch vor der Jahrtausendwende bauten sie das Softwareunternehmen Intershop mit auf, 2005 gründeten sie das weltweit erfolgreiche IT-Unternehmen Smaato und verkauften es elf Jahre später. Seit 2019 konzentriert sich das Paar auf das Thema Künstliche Intelligenz. Seit mehreren Jahren investieren die beiden in Start-ups, beraten Unternehmen und haben das Non-Profit-Netzwerk AI.Hamburg geschaffen.

Vorsteher und Kruse pendeln zwischen den Welten, sie leben in Hamburg wie dem Silicon Valley. Vor Kurzem hat die German American Business Association die beiden für „herausragende Beiträge zu den transatlantischen Geschäftsbeziehungen und inspirierende Erfolgsgeschichten“ mit dem renommierten Gaba Award of Excellence ausgezeichnet. Ein Gespräch über Hamburg, Erfindergeist und den Weltuntergang.

Künstliche Intelligenz: Alle staunen über die Dynamik in den USA

Hamburger Abendblatt: Sie kommen gerade aus den Staaten zurück nach Hamburg. Ist das nur eine Weltreise oder inzwischen auch eine Zeitreise in die Vergangenheit, zurück ins „alte Europa“?

Kruse: In den USA weht ein ganz anderer Unternehmergeist. Wir sind gerade mit zehn deutschen KI-Start-ups nach New York und ins Silicon Valley gereist, und alle staunen über die Dynamik dort.

Vorsteher: Das Gute: Die deutschen Unternehmen haben eine wahnsinnig positive Rückmeldung von Investoren und Publikum bekommen. Sie spielen qualitativ auf höchstem Niveau mit – aber leiden unter dem mangelhaften Tempo und Kapital in Deutschland.

Wo liegen denn unsere Probleme?

Kruse: Unsere Start-ups haben oft das Problem, dass sie nur über ihren lokalen Markt nachdenken. Um erfolgreich zu sein, müssen sie die USA mitdenken. Hier ist der Absatzmarkt einfach größer. Und weil die USA nicht nur größer, sondern auch technikoffener sind, stecken Investoren viel mehr Geld in Start-ups. Das erstreckt sich über alle Bereiche: Unternehmen investieren mehr, der Markt für Fusionen und Übernahmen ist größer und die Börsen funktionieren besser. Als Investor habe ich also größere Chancen, etwa über einen Börsengang oder einen Firmenverkauf Geld zu verdienen.

Warum Europäer oft nur die zweiten Sieger sind

Benötigen wir also in Deutschland wieder eine Wachstumsbörse, einen neuen Markt?

Vorsteher: Zweifellos. Das wird aber schwierig. Denn der amerikanische Kapitalmarkt funktioniert einfach besser und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.

Kruse: In Europa haben wir 27 Staaten. Und die Unternehmen denken in nationalen Grenzen. Franzosen tun sich schon in Deutschland schwer und umgekehrt. Uns fehlt ein Ökosystem für Gründer.

Wie kann ein solches Ökosystem aussehen?

Kruse: Es muss alle miteinbeziehen: Start-ups, technikaffine Unternehmen, Hochschulen, Finanzierer von jungen Unternehmen und Ideen. Es gibt in den USA zwanzigmal so viel Wagniskapital wie in Deutschland oder sechs- bis siebenmal so viel wie in Europa. Die Chance also, dass ein Start-up groß wird, ist in den USA um ein Vielfaches größer.

Vorsteher: Und die meisten Gründer, die erfolgreich waren, investieren ihr Geld wieder in eine neue Gründung. So nährt der Erfolg den Erfolg.

Experten: Wir brauchen endlich mehr Wagniskapital

Was muss sich in Deutschland ändern? Geld gibt es hier noch genug.

Vorsteher: Zunächst einmal geht es um die Einstellung. Venture Capital hat auch immer das Adventure, das Abenteuer im Wort, bei uns heißt es Risikokapital.

Die großen Internetgiganten wie Google liegen im KI-Rennen vorn – und investieren weiterhin Milliarden, auch in Deutschland. Dabei wurde das Unternehmen erst 1998 gegründet.
Die großen Internetgiganten wie Google liegen im KI-Rennen vorn – und investieren weiterhin Milliarden, auch in Deutschland. Dabei wurde das Unternehmen erst 1998 gegründet. © dpa | Julian Stratenschulte

Kruse: Leider ist auch bei vermögenden Menschen der Anteil von Venture Capital bei der Geldanlage deutlich unterentwickelt. Die Vermögensverwalter investieren hierzulande lieber in Immobilien. Wir wollen Sicherheit und verpassen viele Chancen. Das muss sich im Interesse des Standortes dringend ändern. Wir haben in Europa mehr KI-Talente als in den USA, die obendrein auch günstiger sind – aber die großen Gründungen finden in den Staaten statt. 

KI-Start-ups: In Europa liegt Deutschland vorn

Wie viele Start-ups gibt es hierzulande?

Kruse: In Europa zählen wir rund 6000 Start-ups im Bereich der KI, Deutschland liegt dabei mit mehr als 1100 auf dem ersten Rang vor Großbritannien und Frankreich. Aber in den USA sind es eben 12.000. Und das Wachstum geht dort oft schneller, weil die Gründer Venture-Kapital bekommen, die Hälfte übrigens von Unternehmen. Hierzulande müssen sie mühsam Geld verdienen, um sich weitere Beschäftigte leisten zu können. Da würde ich mir wünschen, dass unser Mittelstand etwas mutiger wird.

Wir haben das Kapital, wir haben die Kompetenz – und sind trotzdem zweiter Sieger?

Vorsteher: Ja, wir haben auch eine exzellente Ausbildung. Was uns fehlt, sind die Vorbilder, die erfolgreichen Gründer, die dann ihrerseits neue Gründer voranbringen oder selbst Seriengründer werden. 

Kruse: Deshalb versuchen wir, einen Hub, einen Knotenpunkt, für Gründer zu bauen, in dem diese Wissen austauschen, Experten treffen und Investoren finden. Wir bräuchten eigentlich Schulen oder Universitäten für Gründer und Unternehmer. 

„Die Möglichkeiten in Deutschland sind nicht schlecht“

Vorsteher: Die Möglichkeiten in Deutschland sind nicht schlecht. Wir hatten bei Smaato die Zentrale in San Francisco, aber die 110 Software-Entwickler saßen hier in Hamburg. SAP macht das auch nicht anders.

Hamburg soll ein Netzwerkknoten für KI werden. Den Traum hegen viele, allein in Heilbronn investiert die Schwarz-Gruppe über eine Milliarde Euro, um dort Europas größtes Forschungszentrum für künstliche Intelligenz aufzubauen.

Kruse: Was in Heilbronn entsteht, könnten wir in Hamburg eigentlich auch. Dort macht ein Unternehmer etwas für sein Ländle.

Vorsteher: Wir denken nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperationen. Ein Standort allein kann das nicht schaffen. Bei unserer jüngsten Reise in die USA kamen die Start-ups aus Hamburg, Berlin, München und Darmstadt. Die haben wir zusammen hier in Hamburg trainiert und auf die amerikanischen Investoren vorbereitet.

Kruse: Ein Gründer erzählte mir, dass er auch dank der Reise nun mit über 50 Venture-CapitaI-Investoren spricht. Das Echo war absolut positiv. Diese Start-ups können allemal mit der US-Konkurrenz mithalten.

Wie KI unser Leben verändert

Um es einmal konkret zu machen, welche Dienste bieten denn diese Unternehmen an?

Kruse: Da haben wir zum Beispiel DPV Analytics beziehungsweise Myritmo, die ein Langzeit-EKG Gerät ohne Kabel anbieten, das dem Arzt Zeit spart und kostengünstig ist. So lassen sich bis zu 15 Tage sehr genaue EKG-Messungen erzielen und die KI-Software bietet dann binnen kürzester Zeit eine Auswertung. Sie erkennt per KI Herz-Rhythmus-Störungen, die herkömmliche Geräte und Diagnosen übersehen. Und das Messgerät ist viel bequemer zu tragen.

Vorsteher: Eine zweite Firma Fuse-AI aus dem Gesundheitsbereich kann sehr schnell und genau Prostata-MRT auswerten. Ohne KI kommt es in 14 Prozent der Fälle zu Fehldiagnosen, mit dieser Anwendung sinkt der Anteil auf unter ein Prozent.

Kruse: Es wird nicht mehr lange dauern, da lassen sich mit einem Ganzkörper-Scan alle Organe per KI untersuchen. Das wird nicht nur günstiger, sondern schneller und genauer. Gerade im Gesundheitsbereich passiert unglaublich viel: Acht Prozent der KI-Start-ups kommen aus diesem Bereich. Der nächste Schritt ist dann die Vorbeugung. Stellen wir uns vor, was wir erreichen, wenn uns eine personalisierte App Empfehlungen zur Gesundheit und zum Lebensstil gibt. 

Wie KI hilft, unser Leben zu verlängern

Vorsteher: Da fördern wir ein weiteres Start-up: Wir werden alle älter und wollen länger gesund bleiben. Die Firma untersucht, wie das gelingen kann und führt alle Untersuchungsergebnisse in einer KI zusammen und erteilt individualisierte Ratschläge.

Kruse: Aus Hamburg kommen zwei weitere spannende Unternehmen. Da ist zum einen Neuroflash, das mithilfe von KI Texte erstellt und aktualisiert und damit mit seinem Programm den zielgruppengenauen Vertrieb und Marketing von Unternehmen optimiert. Die KI gibt sogar Vorhersagen, wie erfolgreich das Marketing sein wird. Die KI von Dealcode automatisiert den Vertrieb von Unternehmen. KI Sales-Agenten übernehmen Aufgaben wie Datenpflege, Kundenansprache und priorisieren Deals.

Vorsteher: Das Charmante ist, dass KI viele Probleme auf einfache Art lösen kann, die Unternehmen umtreiben. KI revolutioniert unser Leben in allen Bereichen: Ich bin großer Fan des Hamburger Start-ups Hivesound, das Imkern hilft, die Gesundheit ihrer Bienenvölker zu analysieren. Am Summen der Bienen kann die KI per App erkennen, ob sich dort Krankheiten ausbreiten.

Kruse und Vorsteher investieren in aussichtsreiche Start-ups

Sind Sie über Ihren AI.Fund in diesen Unternehmen investiert?

Kruse: Nein. Noch nicht. Der Fonds ist erst im Dezember 2023 gelauncht worden und hat ein Volumen von bis zu 100 Millionen Euro. Das ist wichtig für den Standort.

Vorsteher: Das Mindestinvestment liegt wegen der Regularien bei 200.000 Euro, das ist in anderen Ländern niedriger. Dabei sind die Renditemöglichkeiten von rund 15 Prozent sehr gut, besser als an der Börse. Zumal die Streuung das Risiko mindert.

Die Deutschen scheuen das Risiko.

Kruse: Leider. In den USA sieht jeder viel deutlicher den Erfolg der Technologieunternehmen, viele haben von der grandiosen Kursentwicklung etwa bei Nvidia, Amazon, Apple oder Google profitiert. Und diese Unternehmen sind es, die weiter Milliarden investieren – auch in Deutschland. Die großen Techkonzerne werden damit noch größer. Wie viele Jahre wollen wir noch hinterherhinken?

„Wir können das gesamte Wissen der Menschheit allen zur Verfügung stellen“

Der Ericsson-Chef warnt, dass Europa zu einem Museum wird, mit toller Architektur, gutem Essen – aber ohne Technologie.

Vorsteher: Absolut! Wir sehen immer zunächst die Gefahren, aber nicht die Chancen. Und damit verpassen wir, die Möglichkeiten zu nutzen.

Kruse: Wir leben in der spannendsten Phase der Menschheitsgeschichte. Wir bekommen jetzt die Möglichkeit, das gesamte Wissen der Menschheit allen zur Verfügung zu stellen. Jeder kann Nutznießer sein, dafür reicht ein Smartphone. Als wir mit Smaato in 2005 anfingen, hatten wir weltweit 30 Millionen Smartphone-Nutzer, jetzt sind es sieben Milliarden weltweit. Und dank der Übersetzer-KI DeepL aus Köln lassen sich Services längst in alle großen Sprachen übersetzen.

Wie KI den Arbeitsmarkt umkrempelt

Wenn ich die Möglichkeiten der KI sehe, frage ich mich, welche Berufe meine Kinder noch anstreben sollen? Bleibt da viel übrig außer Handwerk?

Vorsteher: Die Kinder müssen lernen, mit den Werkzeugen der KI umzugehen, um dann in ihren Jobs effektiver zu sein. Ich erinnere noch die Zeiten, als nicht einmal jeder Mitarbeiter einen Rechner auf dem Schreibtisch hatte und die Angst umging, die Computer würden uns alle arbeitslos machen. Es kam anders.

Elon Musk sieht KI (englisch AI) nicht nur positiv: Er sagte, es gebe eine zehn- bis zwanzigprozentige Chance, dass künstliche Intelligenz die Menschheit zerstört.
Elon Musk sieht KI (englisch AI) nicht nur positiv: Er sagte, es gebe eine zehn- bis zwanzigprozentige Chance, dass künstliche Intelligenz die Menschheit zerstört. © dpa | Jordan Strauss

Kruse: Das Auto hat auch die Kutsche verdrängt. Wir müssen das Wissen der KI anwenden und nutzen lernen. Also sollte der Nachwuchs nicht nur daddeln, sondern spielerische Empfehlungen bekommen, wie er sich weiterentwickeln kann. Unser Lernsystem wird sich komplett wandeln. Lerninhalte können in Zukunft viel individueller vermittelt werden. Wir unterstützen beispielsweise ein Start-up mit einer App, die vor allem in Südamerika schon 15 Millionen Mal heruntergeladen wurde. Studenten laden dort Studien hoch, und die App stellt dann Lernfragen dazu.

Warum uns die Angst vor KI nicht weiterhilft

Experten wie der Tesla-Gründer Elon Musk sehen KI auch kritisch. Er schätzt, dass es eine zehn- bis zwanzigprozentige Chance gibt, dass künstliche Intelligenz die Menschheit zerstören könnte.

Kruse: Das sind wieder die Sorgen, die uns hemmen. Feindbilder bringen uns nicht weiter. KI kann helfen, unsere Menschheitsprobleme wie den Klimawandel zu bekämpfen, durch bessere Umwelttechnik, höhere Effizienzen, aber auch genaue Vorhersagemodelle durch erklärbare und ethische KI.

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Hat Europa in dem globalen Rennen überhaupt noch eine Chance?

Kruse: Die Techfirmen der USA sind uns weit enteilt und investieren schon seit Jahren in KI. Auch China setzt massiv auf KI. Seit 2017 ist diese dort Teil der Schulbildung. Da müssen wir dringend aufholen.
Aber so pessimistisch bin ich nicht: Wir können, wenn wir es wollen. Jetzt ist die Zeit, in KI zu investieren! Packen wir es an!