Hamburg. Mieter in staatlich geförderten Wohnungen werden nicht überprüft. Ist das noch gerecht? Wer jetzt eine Fehlbelegungsabgabe fordert.
Anna und Bert hatten Glück im Leben. Anna hatte als Studentin ein kleines Unternehmen gegründet, das lange kaum Einnahmen abwarf. Weil sie am Existenzminimum lebte, konnte sie eine günstige Sozialwohnung beziehen. Doch mittlerweile macht ihre Firma ordentliche Gewinne, Anna geht es prächtig – auch, weil sie als Single immer noch in der extrem billigen, kleinen Wohnung lebt.
Auch bei Bert stellte sich das Glück nicht über Nacht ein: Nachdem er sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs gerade so über Wasser gehalten hatte, fand er doch noch eine Festanstellung und arbeitete sich langsam nach oben. Heute zählt er als Abteilungsleiter zu den Besserverdienern. Die staatlich geförderte Sozialwohnung in einem Hamburger Szeneviertel hat er dennoch nie aufgegeben – in der Lage würde er nie wieder so etwas Günstiges finden.
Mieten Hamburg: Millionär in Sozialwohnung – warum das in Hamburg möglich ist
Anna und Bert gibt es nicht wirklich. Aber es könnte ihre Lebenswege genau so geben. Denn wer in Hamburg einmal eine Sozialwohnung bezogen hat, muss nie wieder nachweisen, dass ihm diese noch zusteht. Mehr noch: Es fragt auch niemand nach.
„Sollten sich während des Mietverhältnisses die Einkommensverhältnisse des Haushalts ändern, muss der Haushalt nicht aus der Wohnung ausziehen“, teilte die Stadtentwicklungsbehörde dazu mit: Es bedürfe auch „keiner weiteren Mitteilung“ gegenüber dem Bezirksamt, das den Wohnberechtigungsschein (WBS) ausgestellt hat.
In Hamburg könnten 10.000 Sozialwohnungen fehlbelegt sein
Dieses auch Paragraf-5-Schein genannte Dokument ist zwar an Einkommensgrenzen gebunden und nur zwei Jahre gültig. Doch wer in dieser Zeit eine Sozialwohnung findet und bezieht, ist im Prinzip für alle Zeiten fein raus: Auch wer später Oberarzt, erfolgreiche Unternehmerin oder Lotto-Millionär ist, kann weiterhin für eine Kaltmiete von 7,10 Euro (erster Förderweg) oder 9,20 Euro (zweiter Förderweg) pro Quadratmeter leben, während Wohnungen auf dem freien Markt schnell das Doppelte kosten.
Offizielle Daten über diese Fehlbelegung gibt es für Hamburg nicht. Doch Zahlen aus anderen Ländern sowie Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen darauf schließen, dass auch in der Hansestadt etwa zehn bis 15 Prozent der noch 76.000 Sozialwohnungen von Menschen belegt sind, die darauf kein Anrecht haben.
Die „Fehlbelegungsabgabe“ wurde in Hamburg 2002 abgeschafft
Ein Dreivierteljahr vor der Bürgerschaftswahl entbrennt daher nun eine Debatte über die Wiedereinführung der „Fehlbelegungsabgabe“, wie es sie in Hamburg von 1990 bis 2002 gab: Damals mussten Mieter von Sozialwohnungen, die die Einkommensgrenzen überschritten, je nach Höhe der Überschreitung zwischen 0,50 und 3,0 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche entrichten.
Wie der aktuelle Senat kürzlich auf eine Schriftliche Anfrage der CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Anke Frieling darstellte, betraf das immerhin 15 Prozent der Mieter (oder 19.000 der damals noch 126.000 Sozialwohnungen) und spülte rund 15 bis 19 Millionen Euro pro Jahr in die Kassen – Geld, das in neue oder bestehende Sozialwohnungen investiert wurde.
„Problematische Sozialstrukturen“: Senat wollte keine Brennpunkte
Dennoch wurde die Fehlbelegungsabgabe 2002 abgeschafft. Verbreitete Meinung, sowohl bei der damals regierenden CDU als auch bei der SPD, war, dass die Abgabe die Bildung sozialer Brennpunkte befördert hatte. Denn Besserverdienende zogen lieber weg als einen Aufschlag auf die Miete zu bezahlen. In den Großsiedlungen hätten sich „teilweise problematische Sozialstrukturen“ gebildet, hieß es damals vom Senat.
Allerdings war „Wohnungsnot“ in Hamburg rund um die Jahrtausendwende noch ein Fremdwort. Wer für seine Sozialwohnung mehr zahlen sollte, fand in der Regel eine Alternative. Heute ist das anders: Viele Jahre mit Zuzug und stark steigenden Mieten haben zu einer gen null tendierenden Leerstandsquote geführt und dazu, dass kaum jemand ohne Not seine Wohnung aufgibt – schon gar keine günstige Sozialwohnung.
Vermieter beobachtet: Dicke Autos, aber in Sozialwohnungen leben
Die Fehlbelegung nehme immer mehr zu, berichtete ein Unternehmer, der selbst Sozialwohnungen vermietet, dem Abendblatt. Er beobachte Mieter mit dicken Autos oder Ferienwohnung an der Ostsee und habe auch mehrfach Behörden auf die mutmaßliche Fehlbelegung hingewiesen. Doch die habe das „gar nicht interessiert“, so der Geschäftsmann – wohl auch, weil eine Überprüfung der Verhältnisse schlicht nicht vorgesehen ist.
„Uns liegen keine Daten über die Fehlbelegung von Sozialwohnungen in Hamburg vor“, sagte Maren Reder, Leiterin der Abteilung Wohnen in der von Senatorin Karen Pein (SPD) geführten Stadtentwicklungsbehörde, im Gespräch mit dem Abendblatt. Diese zu erheben sei derzeit auch nicht geplant: „Unser Schwerpunkt liegt darauf, Wohnraum zu schaffen und die Hamburgerinnen und Hamburger mit bezahlbaren Wohnungen zu versorgen.“
Behörde glaubt nicht an Millionäre in Sozialwohnungen
An die oft bemühte Geschichte vom „Millionär in der Sozialwohnung“ glaubt man in der Behörde nicht. Dennoch räumt auch Reder ein: „Es wird auch in Hamburg Menschen geben, die in einer geförderten Wohnung leben, obwohl sie die Einkommensgrenzen überschreiten.“ Aber in der Regel dürften sie nur knapp darüber liegen und würden durch eine Abgabe vor Probleme gestellt bis hin zum Auszug aus ihrem angestammten Quartier: „Daher wäre so eine Abgabe vor dem Hintergrund eines angespannten Wohnungsmarktes das falsche Signal.“
Die Stadt setze dagegen auf Kooperationsverträge mit der Saga und den Genossenschaften. „Darüber können wir mehr Berechtigte mit einer günstigen Wohnung versorgen, als es normalerweise möglich wäre“, so Reder. „Würde die Fehlbelegungsabgabe wieder eingeführt, müssten wir diese erfolgreichen Kooperationen beenden.“
12.000 Sozialwohnungen freigestellt, um Quartiere zu stabilisieren
Nele Dröscher, Leiterin des Referats Wohnungsbestandspolitik in der Behörde, erinnert daran, dass die Stadt schon vor vielen Jahren rund 12.000 Sozialwohnungen in Steilshoop, Mümmelmannsberg, Wilhelmsburg und Neu-Allermöhe-West bewusst „freigestellt“ und so die Einkommensgrenzen aufgehoben habe: „Unsere Erfahrungen mit der Freistellung sind gut“, so Dröscher. „Attraktive Wohnquartiere leben auch von einer sozialen Durchmischung, diese wirkt stabilisierend und harmonisierend.“
Die Behörde legt zudem Wert darauf, dass Hamburg keinen Sonderweg beschreite: Außer Rheinland-Pfalz hätten fast alle Bundesländer die Fehlbelegungsabgabe abgeschafft oder nie eine gehabt. Nur Hessen habe sie 2016 wieder eingeführt. Dort lagen die jährlichen Einnahmen zuletzt bei rund zehn Millionen Euro und die Fehlbelegungsquote bei etwa 13 Prozent.
Hamburgs Grüne sehen Fehlbelegung „durchaus als Problem“
Die Hamburger Grünen gehen davon aus, dass die Quote in der Hansestadt ähnlich hoch sein dürfte und sehen dies „durchaus als Problem“, wie es heißt. Ein Konzept dagegen soll ins Programm für die Bürgerschaftswahl 2025 aufgenommen werden.
Es sieht vor, dass künftig bei Neubauprojekten von vornherein auf eine gemischte Belegung geachtet wird, indem auch innerhalb von Gebäuden Wohnungen mit unterschiedlicher Förderung angeboten werden. In diesem „Hamburg-Haus“ soll die Miethöhe maximal 30 Prozent des Haushalts-Nettoeinkommens betragen. Das Grundprinzip: Steigt das Einkommen, steigt auch die Miete. Sinkt das Einkommen, sinkt auch die Miete.
Konzept der Grünen: Maximal 30 Prozent vom Netto für Miete
Die Überprüfung soll alle fünf Jahren über ein digitales Verfahren, auch mithilfe von Künstlicher Intelligenz, auf Basis des Einkommensteuerbescheides erfolgen. Dadurch entfalle viel Bürokratie, und es würden Geld und Kapazitäten frei, um berechtigte Haushalte zu fördern.
„Niemand muss deshalb umziehen“, stellte der Grünen-Stadtentwicklungsexperte Olaf Duge klar. „Es wird nur das gezahlt, was das Einkommen möglich und solidarisch nötig macht.“ Ebenso wichtig sei ihm, dass man keine neue Fehlbelegungsabgabe wolle, so Duge: „Das ist ein Relikt aus der Vergangenheit.“
CDU für die Wiedereinführung der Fehlbelegungsabgabe
Die CDU spricht sich dagegen klar für die Wiedereinführung der Abgabe aus. „Um eine Sozialwohnung beziehen zu können, darf man bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschreiten. Das wird aber genau einmal überprüft: beim Einzug“, kritisiert ihre Stadtentwicklungsexpertin Anke Frieling. „Ist aus der Studentin eine Chefärztin geworden, kann sie immer noch dort wohnen.“
In einem angespannten Wohnungsmarkt wie Hamburg führe das dazu, „dass viel zu selten einmal eine günstige Wohnung für aktuell Anspruchsberechtigte frei wird“, so Frieling. Ihre Vorstellung von einer Fehlbelegungsabgabe: „Menschen mit einem höheren Einkommen, die in einer Sozialwohnung leben, müssen diese nicht aufgeben. Aber sie zahlen zusätzlich zur günstigen Sozialmiete einen Aufschlag, der für den Bau neuer Sozialwohnungen verwendet wird.“
Wohnungsverbände: Fehlbelegungsabgabe wäre gerecht, aber...
Die Wohnungswirtschaft ist in dieser heiklen Angelegenheit im Zwiespalt. Staatlich geförderten Wohnraum nur an Menschen mit den entsprechenden Voraussetzungen zu vergeben sei zwar „erstrebenswert“, sagte Kay Brahmst, Vorsitzender des Landesverbands Nord im Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW). Die soziale Durchmischung der Quartiere sei aber ebenfalls sinnvoll, eine Verdrängung von Bewohnern könne „nachteilige Auswirkungen haben“, so Brahmst.
- Immobilien Hamburg: Frei finanzierter Wohnungsbau bricht dramatisch ein
- Mieten in Hamburg: Fast 100.000 Euro Gehalt, aber Sozialwohnung – so geht‘s
- Fernwärme-Preis explodiert – Heizen nun teurer als die Miete
Wenn man zudem den Verwaltungsaufwand ins Verhältnis zu erreichbaren Zielen setze, bewerte man die Wiedereinführung einer Fehlbelegungsabgabe „als kaum realisierbar“, so der BFW-Chef.
Mieten Hamburg: Andreas Breitner: Abgabe schafft kaum neue Sozialwohnungen
Andreas Breitner, Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW), räumt ein: „Die sozialen Vermieter sind in der Frage der Fehlbelegungsabgabe gespalten.“ Vom Gerechtigkeitsempfinden her sei eine Abgabe für Mieter mit zu hohen Einkommen „richtig“. In der Praxis spreche aber dagegen, dass der bürokratische Aufwand hoch und der finanzielle Nutzen „überschaubar“ sei und die Abgabe nicht zu einem merklichen Plus an Sozialwohnungen führe, so Breitner.
Tatsächlich stellt Hamburg inzwischen mehr als 750 Millionen Euro pro Jahr für Sozialwohnungen zur Verfügung – da würden 15 Millionen mehr keine großen Sprünge erlauben. Zudem müsse eine Segregation von Wohnvierteln vermieden werden, so Breitner. „Wer deutlich mehr für seine bisherige Wohnung zahlen müsste, der zieht wahrscheinlich weg.“