Hamburg. Laut Hamburger Umfrage fühlen sich viele ausgelaugt. Der Krankenstand ist so hoch wie nie. Experten sagen, was sich ändern muss.
Die deutsche Wirtschaft steckt seit vier Jahren in der Krise – und das gilt auch für Hamburg. Dennoch ist nicht einmal für 2024 endlich ein echter Aufschwung in Sicht. So prognostizieren die Ökonomen des Forschungsinstituts IW sogar ein weiteres Rezessionsjahr. Und gerade erst hat die Handelskammer Hamburg von einem „trüben Ausblick“ für die Unternehmen der Hansestadt gesprochen. Rund jede dritte Firma gehe von einer verschlechterten Geschäftslage in diesem Jahr aus, während nicht einmal jeder zehnte Betrieb eine Verbesserung erwarte.
Doch manches deutet darauf hin, dass es nicht nur externe Faktoren – etwa die viel beschworene Konsumzurückhaltung der Verbraucher – allein sind, die den Unternehmen zu schaffen machen. Anzeichen dafür finden sich in einer Studie des Personalentwicklers Pinktum, der zur Hamburger Unternehmensberatung Pawlik gehört. In einer repräsentativen Umfrage unter berufstätigen Personen geben immerhin fast ein Drittel an, ihnen fehle die Kraft für die tägliche Arbeit. Sie fühlen sich ausgelaugt. Nahezu die Hälfte der Befragten berichtet, heute deutlich weniger Kraft zu haben als noch vor drei Jahren.
Jobs Hamburg: Jedem dritten Beschäftigten fehlt die Kraft zur Arbeit
Interessanterweise ist es nach ihrer eigenen Einschätzung gar nicht so sehr die Arbeit selbst, die den Beschäftigten die Kraft raubt. An der Spitze der gefühlten Belastungsfaktoren stehen „die Politik in Deutschland“ und „die Vielzahl der Krisen“, darunter Kriege, Flüchtlingsströme und der Klimawandel.
Auf der anderen Seite reagieren Unternehmen, wenn es nicht gut läuft, darauf in der Regel so, dass sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einfach noch mehr Einsatz abverlangen. Genau das aber könne nun, nach der langen Krisenphase, gerade den gegenteiligen Effekt haben, meint Joachim Pawlik, Gründer und Inhaber von Pawlik Consultants: „Was herauskommt, wenn man den Druck auf die Beschäftigten jetzt noch weiter erhöht, ist keine Steigerung der Produktivität, sondern ein höherer Krankenstand.“
Arbeitnehmern fehlt die Kraft: Krankenstand auf neuem Rekordwert
Tatsächlich ist dieser in Hamburg zuletzt auf einen neuen Rekordwert geklettert. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse fehlten die bei ihr versicherten Erwerbstätigen im Jahr 2023 krankheitsbedingt an durchschnittlich 19,4 Tagen. 2022 waren es 18,2 Tage, im Vor-Corona-Jahr 2019 nur 15,2 Tage. Zwar verursachten Atemwegserkrankungen wie Grippe, Erkältungen oder Bronchitis den größten Teil der Fehlzeiten. Es melden sich aber auch immer mehr Menschen in der Stadt wegen psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig.
Von den etwa 1,32 Millionen Erwerbstätigen in Hamburg sind hochgerechnet 93.600 mindestens einmal im Jahr wegen psychischer Leiden krankgeschrieben, wie Analysen der Krankenkasse Barmer zeigen. „Wir beobachten diese Entwicklung mit Sorge, auch mit Blick auf all diejenigen, die diese Arbeitsausfälle abfedern müssen“, sagt Susanne Klein, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Hamburg – zumal eine Krankschreibung aufgrund seelischer Leiden bei Beschäftigten in der Hansestadt im Schnitt mehr als sieben Wochen dauert.
Die Produktivität pro Arbeitsstunde steigt derzeit nicht mehr
Ursache solcher Probleme ist nach Erkenntnissen der Krankenkasse nicht selten das Gefühl mangelnder Kontrolle über die Handlungsmöglichkeiten. „Hohe Anforderungen bei geringem Tätigkeitsspielraum“ seien ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen im beruflichen Kontext, so Klein.
Doch Ähnliches gilt für die Krisen in der Welt, seien es der Klimawandel oder die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Auch ihnen fühlt man sich ausgesetzt, ohne wirklich etwas daran ändern zu können. „Die Politik der Bundesregierung trägt noch zur Verunsicherung der Menschen bei, wie das Beispiel des ‚Heizungsgesetzes‘ zeigt“, sagt Tanja Chawla, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Hamburg.
Was auch immer dafür verantwortlich ist – die Produktivität je Erwerbstätigenstunde in Deutschland nimmt derzeit ab. Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge lag sie im vergangenen Jahr (erstes bis drittes Quartal) niedriger als 2022, während diese Kenngröße bis dahin seit 2016 stetig gestiegen ist.
„Das Homeoffice hat uns einsam gemacht“ – und die Arbeitszufriedenheit leidet
Nach Einschätzung von Joachim Pawlik kann die nun schon seit fast vier Jahren andauernde Arbeit im Homeoffice zu den wahren „Krafträubern“ gehören. „Das Homeoffice hat uns einsam gemacht“, sagt er. „Zunächst waren die Firmen überrascht, wie gut es funktionierte. Aber dass der informelle Austausch auf den Fluren und in den Kaffeeküchen wegfällt, hat einen massiven Einbruch in der Arbeitszufriedenheit gebracht.“
Was sich die Beschäftigten jedoch auf Dauer erhalten wollen, ist die Flexibilität in der Gestaltung des Tagesablaufs – das ergibt sich eindeutig aus der Pinktum-Umfrage. Firmen müssten womöglich neue, ungewohnte Wege gehen, um diesen Wunsch zu erfüllen, so Joachim Pawlik: „Warum müssen es immer ganze Bürotage sein? Warum kann man nicht auch mal einen halben Tag ins Büro kommen, um Kolleginnen und Kollegen zu treffen?“ Das sei sicher nicht ganz so einfach zu organisieren, „aber es würde sich für alle lohnen, solche Möglichkeiten zu schaffen.“
Vielleicht hat die Pandemie, außer der Arbeitsform Homeoffice plötzlich weite Verbreitung zu bescheren, noch einen anderen ganz Effekt mit sich gebracht: Weil zunächst viele Unterhaltungsmöglichkeiten und Zerstreuungen wegfielen, den Menschen also zwangsläufig mehr Zeit zum Nachdenken blieb, haben sich offenbar Prioritäten verschoben. Das betrifft unter anderem den – ohnehin schon immer hohen – Stellenwert der Gesundheit. Berufstätige sind, wie es scheint, noch weniger als zuvor geneigt, krank machende Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.
Beschäftigte wünschen sich flexible Arbeitszeit und sinnvolle Tätigkeiten
Außerdem spielen die Inhalte nun eine große Rolle. Auf die Frage, wie das Unternehmen gestaltet werden solle, damit sie sich als Erwerbstätige mit mehr Kraft und Energie einbringen können, wünschen sich die Befragten laut Pinktum-Studie zuallererst flexiblere Arbeitszeiten und gleich an zweiter Stelle „sinnvolle Tätigkeiten“.
„Auf jeden Fall muss in den Betrieben stärker mit den Beschäftigten darüber diskutiert werden, was die Pandemie mit ihnen gemacht hat“, fordert Chawla. „Gute Kommunikation“ und Mitbestimmung sei wichtiger denn je.
Jobs Hamburg: „Es geht ein Ruck der Aktivität durch Deutschland“
Erkenntnisse aus der Pinktum-Umfrage fließen derzeit in Projekte ein, die die Unternehmensberatung Pawlik auch bei zwei bekannten norddeutschen Firmen gestartet hat: Mithilfe von Workshops und Veranstaltungen will man bei der Hamburger Optikerkette Bode und bei Harry-Brot in Schenefeld dafür sorgen, dass das Leben der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker in der Führung berücksichtigt wird.
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„Es kommt darauf an, dass Führungskräfte wissen, wie die Menschen in ihrem Betrieb empfinden, und dafür ein Verständnis entwickeln“, sagt Joachim Pawlik. „Führungskräfte können natürlich nicht die Probleme der Welt lösen. Aber es hilft schon, wann man mit ihnen darüber sprechen kann.“
Bei allen Problemen sieht die Gewerkschafterin Tanja Chawla jedoch auch ein ermutigendes Signal in Deutschland – die jüngsten Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus: „Es geht ein Ruck der Aktivität durch die Republik. Das beruhigt mich etwas.“