Hamburg. Der Stadtforscher Dieter Läpple sieht die Entwicklung der Hansestadt gefährdet. Die Wirtschaft sei nicht innovativ genug.

Matthias Iken

Herr Läpple, im Jahrbuch fordern Sie in einem fulminanten Essay, sich vom Primat des Hafens zu verabschieden. Sie trauen sich was…

Dieter Läpple: Das ist keine Frage von Mut, das ist eine in der Regionalwissenschaft allgemein akzeptierte Einsicht. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Transportkosten für Güter um 95 Prozent gefallen. Dadurch sind die natürlichen Standortvorteile der Seehäfen entwertet worden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die dynamischen Zentren der Industrie heute ihren Standort im Süden Deutschlands haben. Heute sind vor allem Forschung und Entwicklung die entscheidenden Treiber ökonomischer Dynamik. Übrigens hat Helmut Schmidt 1962 einen Appell an die „tonangebenden Politiker und Unternehmer“ seiner „Vaterstadt“ gerichtet, endlich zur Einsicht zu kommen und sich vom „Primat des Hafens“ zu verabschieden.

Sie bezweifeln, dass der Hafen der wichtigste Arbeitgeber der Stadt ist und nennen seine Bedeutung „imaginiert“…

Zweifellos ist Hamburg groß geworden durch seinen Hafen. Durch den Siegeszug des Containers wurde allerdings ein Innovationsschub ausgelöst, der die Hafenarbeit und die Rolle der Häfen tiefgreifend verändert hat. Auf den Terminals arbeiten heute noch 4.300 Beschäftigte, und die nächste Automatisierungswelle steht bevor. Nach einer aktuellen Studie im Auftrag der Port Authority sind in der Stadt nur noch 30.100 Beschäftigte direkt vom Hafen abhängig. Viele Unternehmen der maritimen Wirtschaft, wie zum Beispiel die Reedereien, benötigen keine unmittelbar räumliche Nähe mehr zur Kaikante. Aber im öffentlichen Bewusstsein ist ‚der Hafen‘ noch immer das zentrale ökonomische Kraftfeld der Stadt.

Hamburg laut Stadtforscher „unterdurchschnittlich innovativ“

Können die Weltstädte London oder New York als Vorbild herhalten, wenn es um den Ersatz der maritimen Wirtschaft geht? Diese Städte haben andere Potenziale.

Das ist richtig. Das sind ‚Global Cities‘ mit spezifischen Stärken, insbesondere im Bereich der Finanz- und Unternehmensdienstleistungen. Und sie verfügen über herausragende Universitäten. Aber in beiden Städten gibt es eine starke soziale Spaltung der Stadtgesellschaft. Hamburg kann und muss seinen eigenen Weg finden und diese sozialen Spaltung vermeiden. Dabei kann das New Yorker Beispiel – trotz aller Kritik und aller Unterschiede – lehrreich sein. Die disruptive Dynamik der Containerisierung hat dem „Stadthafen“ New Yorks, der lange Zeit der größte der Welt war, innerhalb von zwei Jahrzehnten die ökonomische Basis entzogen. Durch die regionale Kooperation mit dem Hafen von New Jersey gab es allerdings eine Renaissance des New Yorker Hafens als einem gemeinsamen Tiefwasserhafen in der Hudson Bay. Nicht mehr die Stadt ist ökonomisch abhängig vom Hafen, sondern die Hafenentwicklung ist zunehmend abhängig von der Dynamik der Stadt.

Was kann in Hamburg denn an die Stelle des Hafens treten?

Die gute Nachricht: Der Strukturwandel ist schon weit fortgeschritten. Hamburg hat einige innovative industrielle Kerne, die wesentlich mehr Menschen beschäftigen als der Hafen. Und Hamburg verfügt mit der Werbe-, Kreativ- und der Medienwirtschaft über Branchen mit überregionaler Bedeutung. Jetzt kommt die schlechte Nachricht: Hamburg ist weit unterdurchschnittliche innovativ. In einer ökonomischen Situation, in der die Stadtwirtschaft vor enormen Herausforderungen steht – Stichworte sind Dekarbonisierung, Kreislaufwirtschaft, Digitalisierung und künstliche Intelligenz – ist dies besonders schmerzhaft. Durch seine geringe Innovationskapazität ist die Hamburgs Wirtschaft nicht zukunftsfähig aufgestellt. Nicht wegen des Bedeutungsverlustes des Hafens, sondern wegen dem politischen und mentalen Festklammern an einem Primat des Hafens.


Wenn wir weniger Hafen wagen, werden wir nicht automatisch Wissenschaftsstadt…

Erforderlich ist eine strategische Neuausrichtung. Es bedarf einer Innovationsoffensive. Aber es muss auch eine Lösung gefunden werden für die Strukturprobleme des Hafens. Deutschland braucht ein leistungsfähiges Hafensystem und eine nationale maritime Souveränität. Die Lösung liegt im Zusammenschluss der norddeutschen Häfen: Kooperation statt Konkurrenz, Bündelung der Ressourcen, Nutzung der komparativen Standortvorteile und gemeinsamer Zugang zu einem verlässlichen Tiefwasserhafen statt Kreislaufbaggern in der Elbe. Schwieriger ist die Konzeption einer Innovationsoffensive. Natürlich müssen die Universitäten gestärkt werden. Aber Hamburg wird nie Boston werden. Die Stadt hat aber das Potenzial, ein europaweit einmaliges Reallabor und Experimentierfeld für die wirtschaftliche und technologische Transformation zu werden. Hamburg ist gut aufgestellt in den Bereich des Bauens, der Architektur und der Stadtentwicklung. Hier sind die Herausforderungen der Dekarbonisierung und der Kreislaufwirtschaft auch am drängendsten.

Stadtforscher äußert sich zu MSC-Deal der HHLA für Hamburger Hafen

Ist der Verkauf von 49,9 Prozent der HHLA an MSC nicht ein Beweis, dass der Hafen doch werthaltiger ist, als Sie schreiben?

Durch seine Marktposition schwimmt MSC im Geld. Diese Reederei kauft gegenwärtig weltweit Hafenanlagen und Hinterland-Verkehrssysteme, um die Transportkette von den Fabriktoren bis zum Endkunden zu kontrollieren. Durch den sehr niedrigen Börsenwert wird der HHLA-Deal für MSC zum „Schnäppchen“. Dabei ist noch völlig offen, welches strategische Interesse MSC mit diesem Engagement verbindet. Die Reederei erwirbt auch die HHLA-Tochter METRANS, ein hochmodernes, europaweit aktives Eisenbahn- und Logistikunternehmen, dessen Wert – nach Expertenmeinung – sehr viel höher ist, als MSC für den Gesamtdeal bezahlt.

Könnte daraus nicht die Chance erwachsen, den östlichen Teil – so wie in den Olympia-Planungen vorgesehen – peu a peu der Stadtentwicklung zu überantworten und die „Flächenverschwendung“ zu heilen?

Das östliche Hafengebiet birgt mit seinen unter- und ungenutzten Flächenreserven ein riesiges Potenzial. Keine andere Großstadt in Europa hat so große Reserven mitten in der Stadt. Und diese Flächen gehören der öffentlichen Hand. Aber ihre Nutzung für eine Innovationsoffensive ist durch das Hafenentwicklungsgesetz blockiert. All das, was man bräuchte – Flächen und Räume für Forschungs- und Entwicklungslabore, Start-ups, Experimentierbauten, vielfältige Nutzungsmischung – verbietet dieses Gesetz. Es verbannt alle nicht-hafenbezogene Funktionen. Da dieser Teil des Hafens wegen des zu geringen Tiefgangs nicht mehr für den Containerumschlag geeignet ist, ist es überfällig, ihn aus dem Hafenentwicklungsgesetz zu entlassen. Ob Senat und Bürgerschaft nach dem MSC-Deal den nötigen Mut dazu haben, kann ich nicht beurteilen. Man kann nur hoffen, dass die Stadt endlich den Mut findet, Abschied zu nehmen vom Primat des Hafens!