Hamburg. Womöglich verliert Hamburg weitere 350 Stellen in der bereits kräftig gestutzten Mineralölbranche. Was dahinter stecken könnte.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Hamburg die unbestrittene Hauptstadt der deutschen Mineralölwirtschaft war: Zu Beginn dieses Jahrtausends wurden fünf der sechs damals größten Tankstellenketten des Landes von der Hansestadt aus geleitet, darunter alle vier führenden.
Davon ist nicht viel übrig geblieben – und demnächst wird die Bedeutung Hamburgs für die Branche noch weiter abnehmen. Denn der Gas- und Ölkonzern Wintershall Dea, der bisher Hauptsitze in Kassel und Hamburg hat, wird künftig nur noch von Kassel aus geführt (das Abendblatt berichtete).
Wintershell Dea: Jobabbau in Hamburg und ein böser Verdacht
Noch unklar ist, wie viele der aktuell rund 520 Arbeitsplätze in Hamburg wegfallen. Der Betriebsrat und die Gewerkschaft IG BCE befürchten den Verlust von etwa 350 Jobs. Vor einigen Tagen hatte das Unternehmen mitgeteilt, deutschlandweit würden rund 300 Stellen „möglichst sozialverträglich“ abgebaut, außerdem werde man etwa 100 Positionen aus dem bisherigen Hamburger „Headquarter“ sozialverträglich nach Kassel verlagern. Dort beschäftigt der Konzern derzeit rund 500 Personen.
In der Hansestadt verbleiben dürfte nach Einschätzung der Arbeitnehmervertreter nur noch die Leitung der Öl- und Gasförderung im Inland. Zu den entsprechenden Aktivitäten gehört die Ölbohrplattform Mittelplate im Wattenmeer vor der Dithmarscher Küste – es ist das förderstärkste Erdölfeld in Deutschland – ebenso wie die Gasförderung an mehreren Orten in Niedersachsen, südlich von Bremen. Rund 150 Hamburger Beschäftigte könnten die Betreuung dieser Aktivitäten übernehmen, vermuten die IG BCE und der Betriebsrat.
Am Mineralöl-Standort Hamburg droht heftiger Jobabbau
„Unsere schlimmsten Befürchtungen sind noch übertroffen worden“, sagt Günther Prien, der Betriebsratsvorsitzende der Wintershall Dea AG in Hamburg. Leiden werde womöglich auch der Forschungsstandort Hamburg, denn bei dem Unternehmen arbeiteten zahlreiche „international qualifizierte Experten“, darunter Geophysiker, Petrophysiker, Ingenieure und Geologen. „Die gehen bei einem Verlust ihres Arbeitsplatzes nicht nach Kassel“, so Prien.
Sie würden auch für Jobs in London, Mailand, in den USA oder in Norwegen gesucht und würden „nun wohl Hamburg verlassen, obwohl sie gern geblieben wären.“ Solche Expertinnen und Experten benötige man aber in Deutschland eigentlich dringend für die Energiewende, zum Beispiel um Geothermieprojekte umzusetzen.
Mit den Plänen zur neuen Organisationsstruktur reagiert Wintershall Dea nach eigenen Angaben auch auf die „neuen Realitäten seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine“. Denn das Unternehmen hat umfangreiche Aktivitäten in Russland, von denen man sich nun trennt und die abgeschrieben werden, was zu einem Nettoverlust von 4,8 Milliarden Euro im vergangenen Jahr führte.
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Operativ hingegen ist die Firma hoch profitabel: Ohne Berücksichtigung des Russland-Rückzugs hätte der Nettogewinn 928 Millionen Euro betragen.
Beschäftigte sind die Leidtragenden
Aus Sicht von Jan Koltze, Leiter des IGBCE-Bezirks Hamburg/Harburg, verhält sich der Haupt-Anteilseigner von Wintershall Dea, der Chemiekonzern BASF, „fast schon wie ein Finanzinvestor“: Er vereinnahme die profitablen Teile „auf dem Rücken der Beschäftigten, die dafür gesorgt haben, dass der Gewinn überhaupt erst entstehen konnte“, so Koltze. „Niemand der in Hamburg Beschäftigten hat etwas mit den Konzernentscheidungen für das fatale, völlig einseitige Engagement in Russland zu tun, trotzdem sind sie jetzt die Leidtragenden.“
Zwei russische Oligarchen sind maßgeblich an dem Unternehmen beteiligt
Entstanden ist die Firma, die sich als Europas führendes unabhängiges Gas- und Öl-Unternehmen versteht, im Jahr 2019 aus der Fusion der BASF-Tochter Wintershall mit der einstigen RWE-Tochter Dea, die aber 2014 an die russischen Oligarchen Michail Fridman und Pjotr Awen verkauft worden war. Sie halten 33 Prozent der Anteile von Wintershall Dea, stehen aber auf der Sanktionsliste der Europäischen Union.
Schon seit Jahren sei das Unternehmen „durch Eigentümerwechsel und Fusion immer wieder durch stärkere Veränderungen mit erheblichem Personalabbau gegangen“, so Prien. Wie Koltze anmerkt, gilt das aber für die gesamte Branche in der Hansestadt. Die Zahl der Beschäftigten sei deutlich stärker zurückgegangen als der Mineralölabsatz: „Der Standort hat ordentlich Federn lassen müssen.“
Schon infolge einer heftigen Konsolidierungswelle im Jahr 2001 gingen viele Jobs verloren. Damals übernahm Shell das deutsche Tankstellengeschäft von Dea, BP verkaufte die Kette seiner Stationen an Aral und verlagerte die Deutschland-Zentrale nach Bochum. Bei ExxonMobil wird das Deutschland-Geschäft zwar noch von Hamburg aus geleitet, die bundesweit mehr als 1000 Esso-Tankstellen aber wurden Ende 2017 an die britische EG Group abgegeben. Allein bei Shell, Wintershall Dea, ExxonMobil und BP sind in den vergangenen zehn Jahren angesichts der Konsolidierung zusammen mehr als 400 Arbeitsplätze abgebaut worden.
Künftig will Wintershall Dea CO2 unter der Nordsee einlagern
Bis Mitte 2024 will Wintershall Dea sein Russland-Geschäft abgewickelt haben. Zwar soll weiterhin in mehreren Regionen der Welt Öl und Gas gefördert werden. Geplant ist aber auch, „die weltweiten Bemühungen zur Dekarbonisierung zu unterstützen“.
Dazu will man unter anderem „unvermeidbare CO-Emissionen aus industriellen Prozessen“ sammeln und von Wilhelmshaven aus zu „geologischen Formationen“ in der norwegischen und dänischen Nordsee transportieren, um sie dort „dauerhaft und sicher“ unterirdisch einzulagern. Außerdem sollen in Wilhelmshaven ab 2028 große Mengen von „sauberem Wasserstoff“ produziert werden.
Für den Arbeitsplatzabbau an den deutschen Standorten gibt es noch keinen konkreten Zeitplan. Nach Angaben eines Sprechers würden die Pläne „nun erst mit den Arbeitnehmervertretungen verhandelt“.