Hamburg. Wo die Droge frei erhältlich ist, sind deutlich mehr Jugendliche abhängig. UKE-Suchtmediziner startet Appell an die Regierung.

Noch zählt Cannabis in Deutschland zu den illegalen Drogen. Das soll sich künftig ändern. In ihrem Koalitionsvertrag haben sich die Ampel-Parteien auf die seit Jahren umstrittene Legalisierung von Cannabis geeinigt und wollen den kontrollierten Verkauf an Erwachsene zu Genusszwecken ermöglichen. Bei Kinder- und Jugendmedizinern sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und Psychiatern stoßen die Pläne der Bundesregierung auf einhelligen Widerstand, wie aus einem nun veröffentlichten Positionspapier der jeweiligen Fachgesellschaften und Berufsverbände hervorgeht. Darin warnen die Wissenschaftler vor einer Entwicklung wie in den USA und Kanada.

„Alle Vorsätze, die Legalisierung mit einem bestmöglichen Jugendschutz zu verbinden, haben sich in vielen Legali­sierungsländern als Illusion erwiesen“, heißt es in dem Appell, den Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen im Kindes- und Jugendalter am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), mitinitiiert hat. Suchtprävention habe laut der Wissenschaftler in der Vergangenheit erwünschte Effekte gezeigt, wenn sie mit einer strikten Angebotsreduzierung einhergegangen sei.

UKE-Suchtexperte warnt: Cannabis schadet Kindern

Wissenschaftliche Arbeiten, die im Positionspapier zusammengefasst wurden, würden belegen, dass die Einnahmehäufigkeiten und -intensitäten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Legalisierungsländern im Vergleich zu Ländern, in denen der Konsum von Cannabis nicht legal ist, deutlich höher liegen, sagt Suchtexperte Thomasius im Gespräch mit dem Abendblatt. „Es wird immer wieder beobachtet, dass die Produkte von den etwas Älteren, die Zugang zum legalen Markt haben, an die Jugendlichen durchgereicht werden.“ Die Cannabis-Abhängigkeiten bei Jugendlichen lägen in den Legalisierungsländern um bis zu 25 Prozent höher als in den Nicht-Legalisierungsländern, warnt der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater.

„Wenn man das berücksichtigt, bekommt man Sorge, dass eine Legalisierung auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen ausgetragen wird.“ Das läge daran, dass die schädlichen Folgewirkungen wie die Störung der Hirnentwicklung, das Scheitern einer altersgerechten Entwicklung insgesamt, depressive Störungen sowie Angststörungen und Suizide unter Cannabis-Einfluss insbesondere bei Jugendlichen zu beobachten seien. „Die Jugendlichen sind sehr viel sensitiver für diese Störungsbilder, weil die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist“, so Thomasius.

Cannabis-Konsum in Deutschland auf vergleichsweise niedrigem Niveau

Aus Erhebungen, die in den Appell der Wissenschaftler eingeflossen sind, geht hervor, dass der tägliche Konsum von Cannabis in Deutschland im europäischen Vergleich auf einem niedrigen Niveau liegt. Demnach weisen nur 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung einen täglichen Cannabis-Gebrauch auf. „Das ist natürlich ein Ergebnis der bisherigen Cannabis-Politik in Deutschland.“ Diese habe bislang neben der Prävention, der Behandlung und der Schadensminimierung sehr stark auf die Angebotsreduzierung gesetzt.

Auch die Zahl der regelmäßig konsumierenden Jugendlichen habe nach Analysen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die seit 30 Jahren repräsentativ Cannabis-Konsummuster erhebt, im gesamten Zeitraum nicht bedeutsam zugenommen, betont Thomasius. Als regelmäßigen Konsum definiert die BZgA einen Cannabis-Konsum von mehr als zehnmal im Jahr. „Insofern besteht aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht überhaupt keine Notwendigkeit an diesem Erfolgskurs etwas zu ändern.“ Die Fachgesellschaften und Verbände würden die Gefahr sehen, dass diese positive Entwicklung mit einer Legalisierung möglicherweise ins Gegenteil verkehrt wird. „Es ist ein gesellschaftliches Signal, das gesetzt wird und die Risikowahrnehmung der Jugendlichen deutlich reduzieren wird“, warnt Thomasius.

Zusammen mit Cannabis werden oft starke Schmerzmittel eingenommen

In der Suchtabteilung für Jugendliche im UKE würden pro Jahr 1600 Patienten behandelt – 1200 von ihnen wiesen cannabisbezogene Störungen auf. „Viele Jugendliche bleiben nicht beim Cannabis stehen“, gibt Thomasius zu Bedenken. „Sie ergänzen den Konsum durch Stimulanzien wie Speed oder Ecstasy-Produkte.“ Aktuell gebe es unter Cannabis konsumierenden Jugendlichen eine Tendenz zusätzlich Benzodiazepine, worunter Valium-Abkömmlinge verstanden werden, einzunehmen. „Für diese Jugendlichen ist Cannabis eine Einstiegsdroge in den Konsum anderer, illegaler Drogen.“ Das liege daran, dass ihnen die Effekte von Cannabis irgendwann nicht mehr ausreichten. Auch stark wirksame Schmerzmittel würden häufig in Kombination mit Cannabis eingenommen. „Cannabis ist immer die erste illegale Substanz.“

Der Großteil der Patienten werde mit 16 oder 17 Jahren aufgenommen. Viele von ihnen hätten im Alter von 14 Jahren erstmalig Cannabis konsumiert. „Bei sehr intensiven Konsummustern bleiben die Jugendlichen in ihrer Entwicklung stehen“, so Thomasius. Zur Folge habe das, dass die Entwicklung einer eigenen Identität nicht gelingt, sie häufig stark in ihrer Emotionsregulation gestört seien, einen Leistungsknick in der Schule aufwiesen oder gar nicht mehr hingingen. Freunde würden gegen ebenfalls konsumierende Jugendliche ausgetauscht, viele gäben ihre früheren Freizeitaktivitäten auf. „Eltern berichten, dass sie an ihre Kinder nicht mehr rankommen.“

„Jugendliche aus ungünstigen sozialen Kontexten sind überrepräsentiert“

Da die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen noch nicht gefestigt ist und das Frontalhirn, welches die biologische Instanz für die Kontrollfunktion darstellt, noch nicht voll entwickelt ist, würden Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen größere Schwierigkeiten haben, Cannabis reguliert zu konsumieren. „Das sehen wir auch bei unseren Patienten, dass sie innerhalb sehr kurzer Zeit in die Abhängigkeit geraten“, sagt Thomasius. Die Therapie-Erfolgschancen bei cannabisbezogenen Störungen lägen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen international zudem nur bei rund 30 bis 40 Prozent. Der Rest werde rückfällig.

Der übermäßige Cannabis-Konsum von Jugendlichen zeige sich dabei zwar in der Sozialstruktur, sei jedoch nicht auf strukturschwache Stadtteile begrenzt. „Für alle Suchtentwicklungen im Jugendalter gilt, dass Jugendliche aus ungünstigen sozialen Kontexten mit geringeren Bildungschancen überrepräsentiert sind“, so Thomasius. „Das heißt aber nicht, dass wir nicht etwa aus den Elbvororten oder den Walddörfern auch Jugendliche bei uns behandeln.“