Hamburg will an Flüssen und Bächen elf Überschwemmungsgebiete ausweisen. Viele liegen in Siedlungsgebieten. Das entwertet die Grundstücke und macht die Anwohner wütend
Sasel. Die Berner Au ist ein beschauliches Flüsschen im beschaulichen Hamburger Nordosten. So beschaulich, dass sie regelmäßig zu einem Rinnsal verkommt oder gar ganz versiegt. Aber einmal in 100 Jahren, so haben die Statistiker und Wasserwirtschaftler der Umweltbehörde errechnet, könnte sie zu einem reißenden Gewässer mutieren und über die Ufer treten. Dann muss der Hochwasserschutz funktionieren. Zur Gefahrenabwehr setzt die Behörde in den Wohngebieten entlang des Bächleins jetzt Überschwemmungsgebiete fest. Das Gewässer soll Raum bekommen, um ihm die Gewalt zu nehmen. Die Keller der Siedler können ruhig voll laufen.
Damit reagiert die Behörde auf die Jahrhundertfluten an Oder und Elbe, die durch Deiche nicht beherrscht werden konnten. In der Informationsbroschüre der Stadt heißt es, die Überschwemmungsgebiete seien „natürliche Rückhalteflächen“, die Wasser „zwischenspeichern“ und dafür „frei gehalten werden“ sollen. Sie sind aber nicht frei. Sie sind besiedelt.
Renate und Eberhard Fiedler wohnen seit 1982 an der Berner Au. Und mit ihnen mehrere Hundert Nachbarn in Krögerkoppel, Alter Berner Weg, Kettlerkoppel und Kettlerstieg, Meiendorfer Mühlenweg. Eine Flut kennen und fürchten sie nicht. Wohl aber die Behörde. Vom Volksdorfer Weg bis zum Farmsener Kupferteich zieht sich die mittlerweile dicht besiedelte Senke entlang des Flüsschens. Ihre Bewohner haben darauf vertraut, dass ihre Wohngebiete Wohngebiete bleiben würden. Das Vertrauen wurde enttäuscht. „Es ist absurd. Aber wir wissen nicht, was wir machen sollen“, sagen die Fiedlers „das Haus und vor allem das Grundstück ist unsere Altersvorsorge. Jetzt ist es plötzlich unverkäuflich.“ Betroffen sind etwa 5000 Haushalte auf 2180 Grundstücken in insgesamt elf Überschwemmungsgebieten, die die Stadt neu festsetzen will. An der Berner Au sind es 305 Grundstücke.
Nach Protesten verlängert Behörde die Einwendungsfrist
Die meisten haben zufällig von den Veränderungen erfahren. Angeschrieben wurde keiner. Die vier Wochen-Frist für die Einwendungen gegen die öffentlich ausgelegten Pläne endete am 14. August –, noch in den Ferien. Der Druck der Anwohner und die Flut der Proteste bewirkten jetzt die zweite Verlängerung der Frist bis zum 31. Oktober. Die Behörde hat das Bezirksamt gebeten, „noch einmal verstärkt zu informieren“. Auch SPD-Fraktionschef Andreas Dressel, „Troubleshooter“ in Sachen Bürgerprotest, will die Wogen glätten.
Nachbarn der Fiedlers haben für 420 Euro den Quadratmeter Grund gekauft und auf kleiner Scholle neu gebaut. „Wir haben erst 2012 Bauanträge gestellt und ohne jede Auflage oder einen Hinweis genehmigt bekommen. Obwohl die Stadt damals schon alles wusste“, sagt Frank Herbert. „Es ist eine Katastrophe.“ Andere haben 1946 mit einem Behelfsheim auf 1000-Quadratmeter-Grundstücken angefangen, Gemüse und Obst angebaut und regelmäßig erweitert. Jetzt sollen sie alle den Wertverlust verkraften angesichts einer Hochwassergefahr, die kommt wie der sprichwörtliche Kai aus der Kiste. Auch gut 40 denkmalgeschützte Doppelhäuser der Baugenossenschaft Gartenstadt Berne gehören zum Überschwemmungsgebiet. „Daran, dass die Berner Au jemals ihr Flussbett verlassen hat, kann sich keiner der Anwohner erinnern“, sagt Jan Kruse, der in fünfter Generation an der Berner Au wohnt. „Unser Gedächtnis reicht 96 Jahre zurück.“
Neue Regeln zum Hochwasserschutz
Kai und die Kiste sind die EU-Richtlinien und Bundesgesetze zum Schutz vor Jahrhunderthochwassern wie der Oder- oder der Elbeflut. „Wir weisen die Gebiete zum Schutz der Bevölkerung aus“, sagt Umweltbehördensprecher Magnus-Sebastian Kutz, „und weil wir gesetzlich dazu verpflichtet sind.“ Mit Erlass der „Hochwasserrisikomanagementrichtlinie“ wurden 2007 die Regeln zur Analyse und Vorsorge gegen „Binnenhochwasser“ neu gemischt. Ingenieure ermittelten die Topographie der Gelände und errechneten anhand hypothetischer Wasserstände die Gebiete entlang der Gewässer, die bei anhaltendem Starkregen überflutet werden würden. Die errechneten Flächen werden dann nicht vor eindringendem Wasser geschützt, sondern als Ausdehnungsfläche für das Wasser vorgehalten und per Rechtsverordnung dafür festgeschrieben.
In § 78 des Wasserhaushaltgesetzes heißt es: „In festgesetzten Überschwemmungsgebieten ist untersagt: 1. die Ausweisung von neuen Baugebieten in Bauleitplänen ..., 2. die Errichtung oder Erweiterung baulicher Anlagen ... 3. die Errichtung von Mauern, Wällen oder ähnlichen Anlagen quer zur Fließrichtung des Wassers bei Überschwemmungen, 4. das Aufbringen und Ablagern von wassergefährdenden Stoffen auf dem Boden ..., 5. die nicht nur kurzfristige Ablagerung von Gegenständen, die den Wasserabfluss behindern können oder die fortgeschwemmt werden können, 6. das Erhöhen oder Vertiefen der Erdoberfläche, 7. das Anlegen von Baum- und Strauchpflanzungen, soweit diese den Zielen des vorsorgenden Hochwasserschutzes ... entgegenstehen, ...“
Demnach sollen einige wenige für den Schutz der Allgemeinheit ihre Grundstücke zur Verfügung stellen? Und zwar ohne jede Entschädigung? Die Antwort der Behörde lautet Ja. „Wir schützen auch die Betroffenen in den Überschwemmungsgebieten“, sagt Kutz. „Die Gebiete würden so oder so in regelmäßigen Abständen überschwemmt. Sie sollen deshalb nicht mehr zusätzlich verbaut werden.“ Sie würden aber Wohngebiete bleiben. Vorhandene Gebäude hätten Bestandsschutz, und das Bauen sei ja auch nicht gänzlich verboten, sagt Kutz. Von einer Entwertung der Grundstücke könne daher keine Rede sein.
Kann-Bestimmung statt Rechtsanspruch
Tatsächlich vermerkt der erwähnte § 78 in Absatz 3 „Ausnahmefälle“, in denen die Behörde die „Errichtung oder Erweiterung baulicher Anlagen“ genehmigen kann. Doch wird damit der in normalen Wohngebieten verbriefte Rechtsanspruch auf eine Baugenehmigung ersetzt durch eine Kann-Bestimmung, auf deren Anwendung der Bauwillige bloß hoffen darf. Auch schreibt die Stadt in ihrer Informationsbroschüre, dass die Gebäude „bei Verlust“ z. B. durch Brand nicht neu errichtet werden dürfen. Immobilienmakler gehen davon aus, dass die Grundstücke künftig ohne ein vorab per Ausnahmegenehmigung erwirktes Baurecht praktisch unverkäuflich sind. Keiner werde das Risiko eingehen, Grün- statt Bauland zu kaufen, hieß es aus Maklerkreisen.
Für die Anwohner ist der Hochwasserschutz völlig unverhältnismäßig. „Es gibt andere Methoden, die Stadt vor Jahrhundertfluten zu schützen als einzelne Grundstücke auszuwählen und zu fluten. Methoden, die nicht zu Lasten einiger weniger gehen“, sagen die Fiedlers. Der Grundeigentümerverband kündigt an, rechtlich gegen die Festsetzung von Überschwemmungsgebieten vorzugehen. „Das ist ein entschädigungspflichtiger Eingriff ins Eigentum“, sagt der Verbandsvorsitzende Heinrich Stüven. „Es kann nicht sein, dass der Staat erst Baugebiete ausweist und dann später einfach sagt: ‚Ich brauche das Gelände zurück!‘“
Die Erfolgsaussichten sind unklar. Die erste Instanz vor dem Verwaltungsgericht dauert gern fünf Jahre, in denen alle Einschränkungen in Kraft bleiben. Und gegen Verordnungen vorzugehen ist noch schwieriger als gegen gesetzliche Festlegungen. „Wir brauchen den Erfolg jetzt“, sagen die Fiedlers.
Stadt lässt vorhandene Schutzeinrichtungen verkommen
Nach Ansicht von Wasserbauingenieuren hat die Stadt seit Jahren die Hochwassergefahr aktiv erhöht. Durch Flächenversiegelung und die Ausweisung immer neuer Baugebiete läuft mehr Regenwasser in die Flüsse. Durch unterlassene Gewässerpflege sinkt die Entwässerungsleistung der zu wuchernden Bäche und Gräben seit Mitte der 1980er Jahre. Die Teiche und Rückhaltebecken werden nicht mehr ausgebaggert und fassen daher weniger Wasser. Die Wehre sind nicht mehr intakt und degenerieren zu einfachen Überläufen. Ein regelmäßiger, kontrollierter Abfluss des Wassers wird so unmöglich.
An der Berner Au sind drei von vier Wehren überholungsbedürftig. Es wäre Platz für die Erweiterung des Rückhaltebeckens oder den Bau eines neuen auf 10 Hektar Wiesen am Meiendorfer Mühlenweg. Die Gewässerunterhaltung an der Berner Au, eigentlich Aufgabe der Stadt, haben stillschweigend die Anwohner übernommen. „Hier gibt es ein weites Feld für staatliche Betätigung“, sagt Stüven. „Sich darauf zu konzentrieren würde auch niemanden ins Unglück stürzen.“