Hamburg. DRK Harburg expandiert mit Frühförderzentrum für Jungen und Mädchen in die Hamburger City. Wie etwa Marcel mit einem IQ von 152 profitiert.
Marcel (18) ist superschlau. Er hat einen IQ von 152 und kennt sich im Programmieren von Computerprogrammen bestens aus. Dennoch musste Marcel, dessen Name aus Gründen der Persönlichkeitsrechte von der Redaktion geändert wurde, dreimal die Schule wechseln. Nach dem Abschluss des Fachabiturs lässt sich der junge Mann jetzt in Hamburg zum Informatiker ausbilden.
DRK Harburg: Projekt betreut Kinder mit Asperger-Syndrom
Julia-Annika Mohr erzählt mit Begeisterung von Marcel. Sie kennt ihn seit seinem achten Lebensjahr. Die leitende Mitarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Hamburg-Harburg und gelernte Psychologin sagt: „Marcel ist supergut in IT und schlauer als 90 Prozent der Menschen, denen wir am Tag begegnen. Ich verstehe mich nicht nur als Therapeutin für ihn, sondern auch als Anwältin für seine Rechte. Bei Marcel wurde das Asperger-Syndrom diagnostiziert.“ Das ist eine neurologisch bedingte Variante der menschlichen Entwicklung, die zum Autismus-Spektrum gehört. „Unsere Angebote für Menschen wie ihn sind ein Anker“, betont Julia-Annika Mohr.
Die Systemische Kinder- und Jugendtherapeutin leitet als Geschäftsführerin die DRK Hamburg-Harburg InklusiveWege gGmbH, das Interdisziplinäre Therapiezentrum Harburg und die Therapiepraxis des DRK. Dazu gehören Mitarbeitende mit ausgewiesener fachlicher Expertise als Sonder-, Sozial- und Heilpädagogen, Logopäden, Ergotherapeuten, Psychologen und Physiotherapeuten. Das Therapiezentrum, bestehend aus verschiedenen Hilfebereichen, steht für eine kleine Erfolgsgeschichte, denn dem DRK Harburg ist es gelungen, dem wachsenden Diagnostik-, Beratungs- und Therapiebedarf in diesem Bereich professionell Rechnung zu tragen.
DRK Harburg: Zahl der Mitarbeiter im Therapiezentrum gestiegen
„Uns erreichen mehr und mehr Anfragen von Eltern, aber auch aus den Kitas und Schulen. Wir bauen sowohl personell als auch räumlich aus und sind seit wenigen Monaten auch in der Innenstadt Hamburgs mit einem Standort vertreten, den wir noch weiter ausbauen werden, weil es die Bedarfslage erlaubt“, sagt Julia-Annika Mohr. In den vergangenen vier Jahren ist die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von 15 auf 60 gestiegen.
Immer wieder kommen in beide Einrichtungen Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Autismus-Störungen und anderen Einschränkungen in der Teilhabe. Im Interdisziplinären Frühförderzentrum werden sie von klein auf betreut. Wie Lisa (5). Sie betritt in Begleitung ihrer Eltern Bianca und Nicole gerade einen Therapieraum im Harburger DRK und hat viel Freude, im Bällebad nahezu komplett zu versinken. „Lisa geht in die Kita“, sagt ihre Mutter Bianca, „und zunehmend stellten wir fest, dass sie länger braucht, um gewisse Dinge zu lernen. Sie selbst sagte auch, dass sie anders sei als die anderen Kinder.“ Statt Geselligkeit liebt Lisa das Alleinsein. „Gesellschaftsspiel findet sie null toll“, sagen die beiden Frauen.
Autismus: Therapie mit Bewegungsübungen
Dreimal pro Woche für jeweils 45 Minuten wird Lisa im Frühförderzentrum fachlich betreut. Das sei für sie das „Highlight“ der Woche. Eine Heilpädagogin begleitet sie auf die Schaukel und bei anderen Bewegungsübungen, lässt sie einen Parcours überwinden und unterstützt sie, den Körper und Empfindungen wahrzunehmen: „Wo ist die Nase? Und wo sind die Beine?“ Solche Fragen und Aufgaben begleiten das Team des Therapiezentrums täglich.
Die abschließenden Diagnosen für das Mädchen aus Harburg stehen noch aus. Es gibt einen Verdacht auf Autismus. Seit der Therapie, die Lisa seit einem Jahr besucht, stellen die Eltern jedenfalls Verbesserungen im Sozialverhalten fest. Neulich sprach sie ein Mädchen an und sagte: „Hallo, ich bin Lisa, wollen wir miteinander spielen?“ Das wäre vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen.
In Deutschland hat ein Prozent der Bevölkerung Autismus
Etwa ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat Autismus. Dieses Anders-in-der-Welt-sein wird von Autisten oft schon sehr früh wahrgenommen. Sie haben das Gefühl, nirgends so wirklich zugehörig zu sein. Sie stellen fest, dass sie nonverbale Signale bei anderen Menschen wie Augenzwinkern und Naserümpfen nicht wirklich deuten können. „Menschen mit Autismus neigen dazu, einige Verhaltensweisen ständig zu wiederholen, zum Beispiel mit den Armen zu wedeln oder Dinge stets auf eine ganz bestimmte Art zu erledigen“, heißt es bei der Krankenkasse AOK.
Sie interessierten sich oft nur für wenige oder ungewöhnliche Dinge, dafür aber sehr intensiv. „Flexibilität und Spontaneität fallen ihnen schwer. Routinen und verlässliche Abläufe sind für sie sehr wichtig. Außerdem reagieren sie manchmal besonders empfindlich oder auch unempfindlich auf äußere Reize wie Geräusche, Gerüche oder Berührungen.“
DRK in Harburg erweitert Angebot in der City
Das DRK in Harburg hat sich auf den wachsenden Therapiebedarf eingestellt und das Angebot erweitert. Allein in diesem Jahr wurden mehr als 600 Kinder betreut, „eine Steigerung um fast 30 Prozent innerhalb von zwölf Monaten“, sagt Astrid Heissen, Sprecherin des DRK-Kreisverbandes Hamburg-Harburg. Im Süderelbe-Raum gebe es kein weiteres, multiprofessionelles Versorgungsangebot dieser Größe. Und auch in der Hamburger Innenstadt sei die Nachfrage groß.
Deshalb wurde jetzt am Herrengraben 26 (Therapie-Zentrum am Fleet) ein Harburger DRK-Standort eröffnet. Zeitgleich wurde in Harburg am Schellerdamm ein Objekt mit zwei Etagen und 920 Quadratmetern Therapiefläche bezogen. Der Grund, das Angebot auszuweiten, liegt für DRK-Vorstand Harald Halpick auf der Hand: „Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung professionelle Unterstützung brauchen, wie auch die Zahl der hilfesuchenden Eltern wird immer größer“, erklärt er. „Um dem Bedarf gerecht werden zu können, haben wir unser spezialisiertes Team in diesem Bereich in den vergangenen Monaten kontinuierlich vergrößert.“
70 Familien mit Autismus-Betroffenen im vergangenen Jahr behandelt
Im vergangenen Jahr wurden multiprofessionell mehr als 400 Familien behandelt, 70 davon aus dem Autismus-Bereich. Alle Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten auch in der Praxis des Zentrums. In dieser werden neben logopädischen, ergotherapeutischen und physiotherapeutischen Angeboten auf Rezeptbasis Kinder und Erwachsene beim Umgang mit Diagnosen unterstützt, die zum Beispiel in Folge von Unfällen oder frühen Geburten entstanden sind, aber auch klassische Behandlungen wie z.B. zu Konzentration, Frustrationstoleranz, Sprachentwicklungsstörungen finden dort statt.
„Wir fördern individuell. Dank unserer vielfältigen Kompetenzen arbeiten wir Hand in Hand mit den Kindern sowie deren Familien und können ganzheitlich begleiten“, erklärt Julia-Annika Mohr den konzeptionellen Ansatz. „Einzelne Schwerpunkte in der Therapie sind möglich: zum Beispiel die heilpädagogische Förderung für Kinder vom Säuglingsalter bis zum Schuleintritt. Oder die so genannte Komplexleistung, die aus mehreren Bausteinen des Therapieangebotes besteht. Wir leisten auch Entwicklungsdiagnostik, die von der Krankenkasse übernommen wird, wenn eine Verordnung des Kinderarztes vorliegt.“
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An den Standorten in Harburg und in der Hamburger Innenstadt bietet das DRK auch die ambulante und mobile Autismus-Therapie für Kinder und Erwachsene bis 21 Jahre an. Neben klassischer Frühförderung sind Elterntrainings sowie Fortbildungen für externes Fachpersonal geplant. „Wir“, sagt Julia-Annika Mohr, „brauchen mehr Menschen, die sich für Autismus begeistern und Betroffene fördern und wir brauchen mehr Bewusstsein und Bereitschaft auf städtischer und behördlicher Seite. Es liegt deshalb noch viel Arbeit vor uns, der wir uns aus Überzeugung stellen.“