Hamburg. Der kleine Sven wartet auf seinen Papa. Doch der kann nicht zum Besuchswochenende kommen. Jetzt hilft ein Hamburger Unternehmen weiter.
Der achtjährige Sven vertraute sich vor einigen Jahren der Religionspädagogin Annette Habert an und klagte ihr sein Leid. Sprach aus, was die Trennung seiner Eltern mit ihm macht. Sein Papa lebte nach der Scheidung Hunderte Kilometer entfernt. Doch zum Glück nahm er für die Besuchswochenenden die weite Fahrt mit dem Pkw auf sich, damit sie gemeinsame Zeit verbringen konnten. Das funktionierte alles gut im Sommer.
Scheidung: Vater muss an den Besuchswochenende im Auto schlafen
Doch die restliche Zeit des Jahres sah Sven seinen Vater nicht. „Mein Papa besucht mich nur im Sommer. Da kann er im Auto schlafen. Kannst du da was machen?“ – das war die große Bitte des kleinen Sven an die Religionspädagogin. Die monatelange Abwesenheit des Vaters hatte einen finanziellen Grund: Weil er sich die Übernachtungskosten für die Umgangszeiten nicht leisten konnte, schlief er nach den Treffen allein im Auto. Im Sommer war das möglich, im Frühling vielleicht auch. Im späten Herbst und im Winter aber nicht.
Religionspädagogin vermittelte dem Vater eine Unterkunft
Die Vorstellung, dass ein Kind nach dem Papa-Tag mit dem Wissen einschläft, dass sein Vater irgendwo draußen auf dem Parkplatz übernachten muss, löste eine tiefe Betroffenheit bei Annette Habert aus. Sie beschloss aktiv zu werden und vermittelte den Vater an einen ehrenamtlichen Gastgeber.
Aus der Hilfe für diesen Einzelfall entstand 2008 unter dem Motto „Mein Papa kommt“ ein bundesweites Netzwerk, das Gastgeberinnen und Gastgeber an getrennt lebende und weit anreisende Eltern vermittelt. Seit 2024 führt die wellcome gGmbH mit Sitz in Hamburg das Angebot mit dem Titel „kindwärts“ weiter – und sucht derzeit auch in der Metropolregion Hamburg Gastgebender für das deutschlandweite Unterstützungsnetzwerk.
Wellcome ist ein sozial engagiertes Unternehmen: Wie hilft es genau?
Ilsabe von Campenhausen ist die Geschäftsführerin des Unternehmens wellcome, das bundesweit auf mehr als 6000 ehrenamtliche Mitarbeitende zurückgreifen kann und 2023 rund 1,9 Millionen Väter und Mütter mit seinen Angeboten erreichte. „Wir wollen Eltern entlasten, beraten und vernetzen, damit ihre Kinder in einer liebevollen Umgebung gesund aufwachsen können“, sagt Frau von Campenhausen. Neben der praktischen Hilfe nach der Geburt und der Onlineplattform www.elternleben.de gehört nun auch „kindwärts“ zum Portfolio. Bundesweit stehen 2000 Gastgeber bereit, die pro Jahr rund 350 getrennt lebenden Elternteilen kostenlos eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Eine Couch, ein Bett in einem separaten Zimmer. Gern mit WLAN.
Scheidung: Wo die getrennten Eltern Hilfe erfahren können
Die Hamburgerin Ruth Freude aus Stellingen zählt zu den Gastgeberinnen. Sie und ihr Mann stellen insgesamt zwei Gästen – einem Vater aus Nürnberg und einer Mutter aus Passau – regelmäßig in ihrem Haus eine Unterkunft zur Verfügung, Kaffee am Morgen und Gespräche inklusive. So muss keiner die teure Übernachtung in einem Hotel bezahlen oder gar im Auto schlafen. Meistens bleiben die Gäste eine Nacht. „Wir haben uns spontan entschieden, Gastgeber bei ‚kindwärts‘ zu werden. Früher haben wir selbst Hilfe erfahren – und wollen nun auf diese Weise etwas zurückgeben und Gutes tun“, sagt Ruth Freude. „Unser Angebot richtet sich an alle getrennt lebenden, weit anreisenden Väter und Mütter, die nach einer Trennung für die Bindungssicherheit ihres Kindes Verantwortung übernehmen wollen“, sagt Ilsabe von Campenhausen. Für das Vermittlungsangebot werden monatlich 15 Euro für das gemeinnützige Unternehmen fällig.
Mit „kindwärts“ werden monatlich zwei kostenlose Übernachtungen möglich
In der Regel kann wellcome zwei kostenlose Übernachtungen pro Monat vermitteln. Individuelle Absprachen sind darüber hinaus möglich. Manche Gastgebender können Kinder tagsüber zum Spielen oder zum Übernachten aufnehmen. Mit „kindwärts“ werden Trennun͏gsfamil͏ien unterstü͏t͏zt und͏ fin͏anziell entlast͏et͏, um ͏sicherzustellen͏,͏ ͏dass Kinder eine verlässliche Bezi͏ehung zu beiden Elternteile͏n aufba͏uen können – un͏abhä͏ngig v͏on d͏er ͏Entfernung. „Jedes Kind“, sagt Ilsabe von Campenhausen, „hat das Recht auf ein gesundes Umfeld. Ki͏nder͏n geht͏ e͏s nur͏ dann gut, wenn e͏s͏ den Eltern gut geh͏t.“ ͏Dieser Leitsatz von wellcome bes͏chreibe auch den Kern von „kindwärts͏“.
130.000 Kinder in Deutschland erleben jährlich die Trennung ihrer Eltern
Doch jährlich erleben rund 130.000 Kinder in Deutschland, wie ihre Familie auseinanderbricht. In mehr als der Hälfte der Scheidungen, die etwa im Jahr 2021 durchgeführt wurden, hatte das Paar gemeinsame minderjährige Kinder. Die Trennung oder Scheidung ihrer Eltern stellt für sie eine tiefgreifende, oft traumatische Veränderung dar. Die emotionale Belastung ist immens: Plötzlich leben sie nur noch bei einem Elternteil, während der Kontakt zum anderen häufig auf Wochenendbesuche beschränkt ist.
In der mobilen Leistungsgesellschaft sind dafür nicht selten große Entfernungen zurückzulegen. Fahrten mit Übernachtungen belasten die individuelle finanzielle Situation, die aufgrund der Trennung ohnehin schon am Limit ist.
Scheidung: Wenn ein Vater einem anderen Vater mit einer Übernachtung weiterhilft
Es sind vor allem die Väter, die sich auf den Weg zu ihren Kindern machen müssen. So beherbergt Gerald Hupfer, der sich vor 18 Jahren von seiner Lebensgefährtin trennte und weite Distanzen zu seinem Sohn zurücklegen musste, im Rahmen des Projekts nun selbst einen Vater. „Der ist einmal im Monat bei mir. Ich stelle ihm das Gästezimmer zur Verfügung. Es ist eine gute Freundschaft entstanden“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Allein im vergangenen Jahr hat „kindwärts“ nach Angaben von Unternehmenssprecherin Nele Lippolis mehr als 4700 Umgangsbesuche und auf diese Weise 474 Mädchen und Jungen Kontakte zu dem reisenden Elternteil ermöglicht. 350 Müttern und Vätern konnte durch die Mitgliedschaft bei „kindwärts“ eine kostenlose Unterkunft zur Verfügung gestellt werden.
Auf Wunsch wird zudem ein Coaching von erfahrenen Fachkräften angeboten. Denn eine Trennung sei wie ein „Erdbeben“. In Hamburg haben sich bislang 30 Gastgeberinnen und Gastgeber bereit erklärt, Väter und Mütter für die Besuchszeiten ihrer Kinder eine Bleibe zu geben. „Wir suchen noch weitere Interessenten“, sagt Ilsabe von Campenhausen.
Sie möchten sich ehrenamtlich engagieren: gastgeber@kindwaerts-wellcome.de. Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN DE06 3702 0500 0004 4078 01