Hamburg. Die Erwartungen an kirchliche Mitarbeiter sind hoch. Die Paul-Gerhardt-Gemeinde in Winterhude hat ein Experiment gewagt.

Es war ein Experiment mit Ansage – und Erwartungen. Im Januar 2024 legte das fünfköpfige Mitarbeiterinnenteam der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Winterhude eine Arbeitspause ein. Eine 14-tägige „Auszeit“ bei winterlichen Minusgraden für die zwei Pastorinnen Nina Heinsohn und Anna Henze sowie die Mitarbeiterinnen Kristina Rübenkamp, Renate Hübner und Charlotte Krohn. Dass sie einfach den „Laden“ mit dem Segen des Kirchengemeinderates und des dienstlichen Vorgesetzten dicht machten, wurde „Reset“ genannt.

Winterhude: Eine „Auszeit“ für die Paul-Gerhardt-Gemeinde

Was einerseits für „Zurücksetzen“, andererseits für ganz konkrete Erwartungen stand: „Rückblick, Erneuerung, Selbstfürsorge, Entwicklung und Teambuilding“ – so haben sie das Wort „Reset“ buchstabiert. Der Instagram-Post zum Auftakt der „Auszeit“ ist noch heute abrufbar. Immerhin gefällt er bislang 169 Mal.

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Fast ein Jahr später sitzen die beiden Pastorinnen gemeinsam mit Gemeindesekretärin Kristina Rübenkamp im Kirchenbüro und lassen die Zeit mit ihren Erwartungen und Ergebnissen Revue passieren. Längst hält sie der kirchliche Arbeitsalltag wieder im Griff. Die Adventszeit nimmt auch in dieser Gemeinde mit ihren 2400 Mitgliedern Fahrt auf. „Klassische“ Gottesdienste der „zeit:los“-Reihe stehen in den nächsten Tagen ebenso auf Programm wie moderne Formate (Winterhuder Christmas Gala und der 23-Uhr-Gottesdienst am Heiligabend mit dem Titel „O Holy Night“ – Christnacht mit dem GospelFire-Ensemble). Die zweiwöchige Auszeit im Januar habe der Gemeinde neue Impulse gegeben – darin sind sich die Frauen einig. Auch habe die Zeit ihnen selbst gutgetan.

Kirche: Pastorinnen und Pastoren sind „Schlüsselfiguren“

Der hohe Erwartungsdruck an die Kirche und ihre Mitarbeitenden, das Tempo der gemeindlichen Veränderungsprozesse und die täglichen Arbeitsbelastungen waren der Auslöser, einmal den „Reset“-Knopf zu drücken, um einen Neustart zu ermöglichen. Gerade die Pastorinnen und Pastoren sind nach wie vor „Schlüsselfiguren“ (Isolde Karle) für den Kontakt zur Kirche. Die Menschen hätten – zu recht – die Erwartung, „dass wir die Ansprechpartnerinnen vor Ort und gut erreichbar sind“, sagen die beiden Pastorinnen. Die persönliche Begegnung sei sehr wichtig und bereite ihnen große Freude.

Zwar gebe es bei ihnen im „Pfarramt“ keinen festen Sprechzeiten mehr, wie das früher eine Zeitlang die Regel war. „Auch kommt es inzwischen eher selten vor, dass jemand an meiner Tür klingelt und mich spontan als Pastorin sprechen will“, sagt Nina Heinsohn. Das habe „stark nachgelassen“.

Paul-Gerhardt-Gemeinde Winterhude: Das läuft im Gemeindebüro

Aber dass die Pastorinnen fast immer erreichbar sind und auf E-Mails und Anrufe „zeitnah“ reagieren, wird doch von der einen oder dem anderen erwartet. Auch die Erwartungen an die Arbeit einer Gemeindesekretärin und das Arbeitstempo der Abläufe haben sich verändert. Das Büro bietet feste Sprechzeiten am Dienstag- und Mittwochnachmittag sowie an vier Vormittagen an. „Ich stelle zum Beispiel Patenscheine aus und kümmere mich um das Beschaffungswesen“, sagt Kristina Rübenkamp. „Die Leute sind überrascht, wie einfach und unbürokratisch das geht und dass es gar keine Gebühren kostet“, sagt sie. Längst werden die modernen Kommunikationsgeräte genutzt, das gute, alte Faxgerät hat ausgedient.

Die Gemeindesekretärin beobachtet indes, dass eine gewisse „Schwellenangst“ vor den Pastorinnen und Pastoren gegeben sei, so dass Wünsche und Anfragen an das Gemeindeleben gern den Mitarbeiterinnen im Büro gegenüber kommuniziert werden.

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Hoher Transformationsdruck

Wie Anna Henze, seit 2012 Pastorin in dieser Gemeinde, und Nina Heinsohn, seit 2020 hier tägig, sagen, erwarten die Menschen vorrangig, dass sich die Kirche verändert. Diesen hohen Transformations- und Erwartungsdruck beschreibt die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) aus dem Jahr 2023: „Es gibt hohe Reformerwartungen an die Kirchen. Mehr als drei Viertel aller evangelischen Kirchenmitglieder finden, dass die Reformen ihrer Kirche in die richtige Richtung gehen.“

Auf vielfältige Weise Neues zu entwickeln und gleichzeitig Bewährtes zu bewahren und dabei noch die Menschen vor Ort im Blick zu behalten, fordert heraus. Das fünfköpfige Team der Paul-Gerhardt-Gemeinde legte nun angesichts dessen eine zweiwöchige Pause ein. Der Kirchengemeinderat stimmte dem befristeten Projekt zu und verwies auf die biblische Sabbat-Tradition, die Arbeit ruhen zu lassen und der Erholung und Besinnung Raum zu geben. Selbstverständlich gab es für Notfälle einen Ersatz. Aber die meisten hauptamtlich geleiteten Sitzungen fielen aus. „Das Kirchenbüro wurde geschlossen“, sagt Gemeindesekretärin Rübenkamp. „Und die Diensthandys wurden ausgeschaltet“, sagt die Pastorin und promovierte Theologin Heinsohn.

„Das könnt Ihr doch nicht machen?“ – lauteten durchaus ein paar Reaktionen aus der Gemeinde, die eigene Erwartungen an Pastorinnen und Mitarbeiterinnen korrigieren mussten.

Konnten sie aber doch.

Winterhude: Das Mitarbeiter-Team sucht einen Escape-Raum auf

In dieser Zeit trafen sie sich zu gemeinsamen Besprechungen, begannen den Morgen mit einem ausgiebigen Frühstück, besuchten einen Escape-Room in der Nähe der Katharinen-Kirche und dachten intensiv über das zurückliegende Jahr und die Zukunft ihrer Arbeit in der Gemeinde nach. Sekretärin Rübenkamp freute sich, vermehrt persönliche Dinge ansprechen zu können. Pastorin Heinsohn genoss die Zeit, keine Abendtermine zu haben, sondern stattdessen ein Buch von Juli Zeh zu lesen, und Pastorin Henze, Mutter von drei Kindern, konnte endlich mal „Sachen in Ruhe machen“.

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Am Ende der 14-tägigen Auszeit standen, geboren aus der Kraft der Ruhe, ganz neue Ideen:  So beginnen Dienstbesprechungen nunmehr mit einer persönlichen Feedback-Runde über die Erlebnisse der vergangenen Tage. Außerdem wurde in der Kirche ein QR-Code installiert. Dort können zum Beispiel Gottesdienstbesucher per Smartphone ihre Gedanken und Bewertungen zum Gottesdienst mit den Pastorinnen und Kirchenmusikerinnen teilen. Und im kommenden Jahr will das Gemeindeteam mit einem Coffee-Bike durch Winterhude fahren und Menschen fragen: „Was erwarten Sie von der Kirche?“

Das „Reset“, sagt Pastorin Heinsohn, habe sich in jedem Fall gelohnt. Inzwischen zeigten auch andere Gemeinden und berufstätige Ehrenamtliche Interesse an diesem Projekt.