Hamburg. Daniel Kaiser über den Advent, Zeit der Sehnsucht und Gesänge, sowie des Erwartens - Schwerpunkt im neuen Kirchenmagazin Himmel & Elbe.

„Macht hoch die Tür!“ Das ist mit das Schönste für mich in jedem Advent. Dieses Lied ist wie der Weihnachtstruck von Coca-Cola, der mit Schmackes bunt blinkend durch die Adventszeit donnert. Eine volle Kirche kann mit diesem Lied alte Mauern zum Zittern bringen. Ich freue mich jedes Jahr, wenn ich es wieder schmettern kann, weil es mit Macht und großer Geste XXL-Worte in Töne gießt, die mir guttun: Herrlichkeit, Heil und Leben, Segen, Sanftmut, Barmherzigkeit, Trost, Jauchzen und Singen, Freud’ und Wonn’! Das Lied klingt mächtig und gewaltig, eigentlich aber ist es sinnlich und zart.

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Genau hier wird der Advent, diese besondere Zeit mit ihren Düften, Stimmungen und Klängen, für mich lebendig: in den Liedern. Es gehört für mich zu den wertvollsten Erinnerungen, wie wir in meiner Kindheit an Sonntagnachmittagen die Kerzen am Adventskranz anzündeten und gemeinsam sangen. Und auch als Erwachsener habe ich mit meinen betagten Eltern singend am Adventskranz gesessen. Das waren besonders rührende Familienmomente mit einem ganz eigenen intimen, tiefen Klang, von dem ich heute noch zehre. Die Sehnsucht, die Hoffnung und manche Traurigkeit, Erinnerungen an Krieg, Flucht, Vertreibung und an eine verlorene Heimat in Pommern und Ostpreußen fanden sich in diesen Liedern und kamen an den Sonntagnachmittagen im Dezember zur Sprache. In diesen Liedern ist der Zauber dieser besonderen Zeit, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gespeichert. 

Adventslieder haben eine herbe Schönheit

Schon damals spürte ich: Die Adventslieder klingen noch mal anders als die Weihnachtslieder. Sie haben eine herbe Schönheit. „Es kommt ein Schiff geladen“ raunt von einer geheimnisvollen, wertvollen Ladung, die alles ändern wird. Und „Mit Ernst, o Menschenkinder“ sagt ja schon im Titel, wo die Reise hingeht. Paul Gerhardts sinnlicher Klassiker „Wie soll ich Dich empfangen“ trifft mich jedes Mal neu ins Herz. Der Advent ist eine Zeit des Wartens und der Erwartung. Seine Lieder sind vielleicht die facettenreichsten, farbigsten, tiefsten Zeugnisse christlicher Liedkunst, denn sie singen alle von einer Sehnsucht nach einem gelungenen Leben und befragen uns nach dem, was fehlt, und nach dem, was wir von unserem Leben erwarten.

Besucher prosten sich mit Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt Wandsbeker Winterzauber zu. Die Adventszeit ist eine Zeit der Düfte.
Besucher prosten sich mit Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt Wandsbeker Winterzauber zu. Die Adventszeit ist eine Zeit der Düfte. © dpa | Marcus Brandt

Es gibt in der Bibel ein uraltes Wort, das diese Sehnsucht, diese flirrende, hochpulsige Advents-Thermik von Warten und Erwarten auf den Punkt bringt: „Hosianna!“ Der Ruf entlädt sich in den Gassen von Jerusalem. So erzählt es die Bibel. Mit riesigen Palmenzweigen in den Händen laufen die Menschen Jesus entgegen, so wie man damals siegreiche Könige begrüßt hat, und sie rufen das „God save the King“ der Bibel: Hosianna! Wenn wir das Wort heute im Lied „Tochter Zion“ trompeten, klingt es nach einem triumphalistischen Halleluja und nach „Happy End“. Das originale Hosianna war allerdings wild und anarchisch. „Sie schrien es“, steht da in der Bibel. Wenn die Bibel vom Herausschreien an anderer Stelle spricht, zerreißen sich Leute gern mal ihre Kleider vor Erregung. Es erklingt aus tiefem Herzen, aus dem Bauch und ohne Rücksicht auf Mittagsruhe oder Etikette. „Hosianna!“

Hosianna ist ein Ausruf voll wilder Freude für Jesu Erscheinen

Es ist ein Jubel. Aber eben nicht nur. Hosianna ist Hebräisch für ein komplexes Gefühl: „Ach, Herr! Hilf doch! Komm! Hilf! Jetzt! Wäre schon dringend. Wir sind offen für das, was kommt. Aber wir schaffen das nicht alles allein.“ So begrüßen sie Jesus mit diesem besonderen Königsruf in dieser komplexen Tonalität: jubelnd und flehend. 

Und Jesus? Antwortet ohne Worte, mit einem Zeichen: Er reitet auf einem Esel.

Damit bei den Menschen endgültig der Groschen fällt, weil sie sich an die uralte Prophezeiung des Propheten Sacharja erinnern: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel.“ Diese Worte aus der Bibel knisterten damals. Sie elektrisierten die Menschen in Israel, die sich unter römischer Besatzung nach Erlösung, nach Unabhängigkeit, nach Freiheit sehnten: „Siehe, dein König kommt zu dir!“

Der König reitet auf einem Esel in die Stadt ein

Man möge genau hinschauen, unterstreicht der Prophet, denn es ist alles anders, als man denkt. Statt des royalen Auftritts mit Pauken und Trompeten, kommt ein ganz anderer Sound in diese Zeit. Der König reitet auf einem Esel in diese angefochtene, aufgeriebene, deformierte Welt.

Er kommt ohne Legionen, ohne Auftritte bei Caren Miosga und ohne Twitter-Profil. 

Er kommt mit seinem Esel und dem stummen Versprechen von Frieden und Gerechtigkeit.

Die Menschen in Jerusalem haben Probleme mit ihren Erwartungsmanagement

Allerdings hatte diese Freude ja nur eine begrenzte Halbwertszeit. Sehr schnell wird aus dem „Hosianna“ ein „Kreuziget ihn!“. Sie haben damals einen erwartet, der politisch durchgreift, auch auf den Tisch haut, die Römer vertreibt. Der dafür sorgt, dass alles wieder so wird wie vorher. Ohne Römer. Aber dieser König ist anders. Er kommt anders. Er spricht anders. Er handelt anders. Die Menschen in Jerusalem hatten gelinde gesagt Probleme mit ihrem Erwartungsmanagement.

Wir leben auch in Hosianna-Zeiten, aber wen erwarten wir denn, der alles neu und besser macht? Von der „Yes we can“-Euphorie, die den halben Planeten erfasst hatte, ist nach den beiden Amtszeiten Obamas und der Rückkehr zu Trump nur noch ein Erinnerungsschimmer übrig geblieben. Ich dachte damals wirklich: Jetzt wird alles anders. Der Advent ist der Resonanzraum für genau diese Frage: Was hoffst und erwartest Du? Wem vertraust Du wirklich?

So nötig wir eine Auszeit haben, Advent ist anders

Es gibt doch viele, die sagen, und der Gedanke ist mir auch nicht wildfremd, es solle alles so bleiben, wie es ist. Oder noch besser – wie es Trump es mit seiner „Make America Great again“-Kampagne gelungen ist: Es soll wieder so werden, wie es früher niemals war. Advent heißt aber, sich nicht mit der Welt, wie sie ist, abzufinden. So muggelig und herzerwärmend die Vorweihnachtszeit gerade ist, und so nötig wir alle auch mal eine nach Vanille und Zimt duftende Auszeit haben: Advent ist anders. 

Alles muss heute schnell und effizient gehen

Wenn Gott in unser Leben kommt, sollten wir darauf vorbereitet sein, dass es anders wird. Neu. Was soll in unserem Leben anders werden? Der Advent stellt diese Frage und ist so ganz anders als das „Weihnachtsstimmung sofort!“-Versprechen der Weihnachtsmärkte, auf denen sich gerade jetzt wieder Bürogemeinschaften im After-Work-Glühweinglimmer durch den Dezember süpseln. Weihnachten gibt es dort scheinbar ohne den Umweg über den Advent, das Warten auf die Ankunft des Eigentlichen. Warten ist heute einfach unsexy. Alles muss schnell und effizient gehen. Aber Weihnachten hat keinen Express-Button.

Nicht für jeden ist der Weihnachtsmarkt ein Ort der Freude und des Genusses, viele Obdachlose und Arme können sich ihn nicht leisten.
Nicht für jeden ist der Weihnachtsmarkt ein Ort der Freude und des Genusses, viele Obdachlose und Arme können sich ihn nicht leisten. © dpa | Marcus Brandt

Im Schatten der Glühweinstände kauern Menschen in ihren Schlafsäcken

Deshalb singe ich so gerne dieses Lied, weil es ein Erwartungs-Booster in diesen Tagen ist, Sehnsüchte ventiliert und ermuntert zu handeln: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“ Auch in dieser Stadt, in der auch in diesem Winter wieder Menschen auf unseren Straßen elend erfrieren werden. Skandalös und unwürdig ist das. Im Schatten der bunt leuchtenden Glühweinstände kauern Menschen in ihren Schlafsäcken. Macht hoch die Tür, damit Nächstenliebe und Wärme einziehen. Mit offenen Toren und Türen haben Kälte und Hunger in unserer Stadt keine Chance.

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„Macht hoch die Tür!“ Das ist der Aufruf dieser Wochen. Denn so viele Türen sind verschlossen: Die des Gesprächs, der Diplomatie, des Friedens, des Miteinanders. Ich glaube, erst in diesem nachdenklichen Advent erwächst Weihnachten als heilsamer Ort, der mehr ist als eine Gefühligkeit für ein paar Stunden. Adventszeit ist Sehnsuchtszeit. In diesen Wochen spüren wir den Schmerz über die Gegenwart, sehen die Brüche – aber mit Zuversicht und mit Hoffnung auf ein gutes Ende.

„Macht hoch die Tür“ bringt große Erwartungen zur Sprache. Es erzählt von allem, was uns gerade fehlt, und ist Balsam für unsere von den Nachrichten wund gescheuerten Seelen. Dieses Lied ist wie Medizin. Es behauptet nicht nur angestrengt das Gegenteil von der Realität, sondern man erlebt beim Singen physisch mit, wie es ist, wenn Gott in unser Leben kommt. Ein Lied, das so stark ist, dass es fast selbst – wie ein magischer Zauber – unser Leben auf Hoffnung dreht und die Welt verändert. Und ich spüre beim Singen dieses Liedes, wie mein Leben reicher wird. Eine Empowerment-Hymne!

Daniel Kaiser leitet die Kulturredaktion des NDR Landesfunkhauses Hamburg. Regelmäßig predigt er in norddeutschen Kirchengemeinden, zum Beispiel am 4. Advent in St. Martinus Eppendorf.