Hamburg. Am Gymnasium Grootmoor geht es bei einer Info-Stunde mit einer Ärztin um Sexualität und Pubertät. Welche Fragen die Teenager beschäftigen.
14 Gymnasiasten warten auf eine Ärztin. An diesem Vormittag wird sie bei ihnen in der Schule sein, ein Routinebesuch. Erst ist die Medizinerin für die Mädchen der 10. Klasse des Gymnasiums Grootmoor da, dann für Jungen aus dieser Klassenstufe.
Die Ärztin nimmt kein Blut ab, misst nicht den Puls und macht auch keine Untersuchungen. Sie hört zu. Und antwortet auf Fragen. Man könne sie alles fragen, es gebe keine Tabus.
Ärztin rät in der Pubertät: Sexualitätsstörungen frühzeitig erkennen
„Ich bin Ärztin und war vor zwei Jahren schon einmal in Eurer Klasse. Ich unterliege der Schweigepflicht“, stellt sich Karen Reinecke den 14 Schülern vor, die soeben in einem Klassenraum Platz genommen haben. Sie lächelt freundlich, sucht den Blickkontakt zu den Schülern und kommt ohne große Vorreden auf den ersten Punkt, als wäre es das selbstverständlichste Thema für eine Unterrichtsstunde um 9.50 Uhr am Gymnasium Grootmoor: Kurz vor der Volljährigkeit findet die letzte Vorsorgeuntersuchung für Jugendliche statt – die J2. Sie dient unter anderem der Früherkennung von Pubertäts- und Sexualitätsstörungen. „Nutzt diese Möglichkeit“, fordert die Ärztin ihre Zuhörer auf, die keinerlei Anzeichen von Langeweile aufweisen und offenbar sehr gespannt sind auf diese Unterrichtseinheit mit 90 Minuten.
Aufklärung in den Schulen mit Ärztlicher Gesellschaft zur Gesundheitsförderung
Die promovierte Ärztin, selbst Mutter von vier Kindern, tourt regelmäßig im Auftrag der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung mit Sitz in Hamburg durch die Schulen und veranstaltet dort „Ärztliche Informationsstunden“. Mediziner dieser gemeinnützigen Gesellschaft vermitteln bundesweit seit mehr als 70 Jahren verlässliches Wissen zu vielen Themen rund um die sexuelle Gesundheit und bilden eigenen Angaben zufolge in den geschlechtergetrennten Informationsstunden ohne Lehrkräfte eine wichtige Brücke im Gesundheits- und Beratungssystem.
Das Themenspektrum reicht von Fragen zur Pubertätsentwicklung und zum weiblichen Zyklus, was besonders die Mädchen interessiert, zur Verhütung, Anatomie und Physiologie der Geschlechtsorgane, über Verhütung bis zu Hodenkrebs, Drogen, Pornokonsum, Rauchen und die durchschnittliche Größe des Penis.
Warzenviren: Ein Pieks schützt vor Krankheiten
„Wir nehmen sexuelle und reproduktive Gesundheit im Setting von Schulen in den Blick und leisten damit einen Beitrag zur Prävention“, sagt Karen Reinecke. „Die Kinder und Jugendlichen sollen den eigenen Körper mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen kennen, schätzen und schützen sowie einen verantwortungsvollen Umgang mit sich und anderen lernen.“
Gleich am Anfang stellt die Ärztin das Thema Impfungen in den Mittelpunkt. Corona?, raunt ein Schüler. Nein. Es geht vielmehr um einen präventiven Schutz vor menschlichen Warzenviren, die Hände, Füße und die Schleimhaut befallen können. 200 Arten seien davon bekannt, „15 davon können zu Krebsvorstufen und Krebs führen und zum Beispiel Gebärmutterhalskrebs verursachen“, sagt Frau Dr. Reinecke. Ein deutscher Professor habe dagegen einen Impfstoff entwickelt. „Wer eine solche Impfung noch nicht hat, sollte sie sich holen“, rät die Ärztin, „denn eine Warze auf dem Penis will man doch nicht wirklich haben.“
Schüler besorgt: „Was kann alles Krebs bei mir auslösen?“
„Was kann noch Krebs auslösen?“, fragt Karen Reinecke in die Runde.
Prompt antworten die Schüler, so engagiert sind die meisten bei der Sache. Sie nennen das Tabakrauchen und die UV-Strahlen der Sonne, falsche Ernährung, Abgase und landen schnell bei Alkohol und Cannabis. Die Ärztin verweist darauf, dass sich Ärzteverbände strikt gegen eine Legalisierung von Cannabis ausgesprochen haben. Mit diesen Worten von Frau Doktor landen die Gymnasiasten direkt in der medizinischen Realität und ihrem Appell: „Wenn du früh und regelmäßig mit dem Kiffen anfangt, wirst du es nicht schaffen, das Abi zu machen.“ Mehr noch: Sie erzählt von einem jungen Kiffer, der im Alter von 17 Jahren reichlich Cannabis konsumierte und plötzlich den großen Traum vom Fliegen hat. Er sprang unter dem Einfluss dieser Droge tatsächlich aus dem Fenster – und ist seitdem querschnittsgelähmt. Ein gehöriges Maß an Abschreckung soll die Kraft der Argumente in dieser Informationsstunde unterstützen.
Pubertät: Warum eine Ärztin Kinder und Jugendliche aufklärt
Karen Reinecke, 56, wurde in Berlin geboren, hat in Marburg Medizin studiert und war später in der Gynäkologie und Geburtshilfe tätig. Verheiratet ist sie mit einem Mediziner. Seit gut neun Jahren ist sie für die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung als Dozentin tätig und erhält dafür eine Aufwandsentschädigung. Bislang gab sie in Hamburg sowie Teilen Schleswig-Holsteins, Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommerns gut 1200 Informationsstunden und erreichte rund 33.000 Schülerinnen und Schüler im Alter von fünf bis 19 Jahren sowie Eltern und Lehrkräfte. „Ich habe im Laufe des Berufslebens meine pädagogische Leidenschaft für Prävention entdeckt“, erzählt sie. Die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen bereite ihr Freude und sei sinnstiftend. Während die Mädchen anfangs zunächst häufig zurückhaltender seien, würden die Jungen offen ihre Fragen stellen.
Videos im Internet: Wie schafft ein Junge es, 16-mal am Tag zu masturbieren?
Frau Dr. Reinecke ist an diesem Vormittag so etwas wie Dr. Sommer und das Aufklärungsteam der einst auflagenstarken Jugendillustrierten „Bravo“. Sie weiß auf jede Frage eine Antwort und kann sie so in Sprache fassen, dass die Jugendlichen sie verstehen. Zuweilen muss Karen Reinecke die von den Schülern angesprochenen Videos im Internet nachschauen, um mitreden und auch ihre Sprache verstehen zu können. Zu ihrer Überraschung wird sie dann auch auf ein Video angesprochen, in dem ein Nutzer behauptet, er würde 16-mal am Tag masturbieren. „Kann man das an einem Tag überhaupt?“, fragt ein Schüler.
Karen Reinecke rechnet nach. Acht Stunden Schlaf vorausgesetzt, wären das zweimal pro Stunde. „Da will sich wohl einer im Internet selbst inszenieren“, vermutet sie.
Kommen wir kurz zu Anatomie, leitet Karen Reinecke zum nächsten Themengebiet über. Woraus besteht der Penis, will sie von den Gymnasiasten wissen. „Aus Fleisch“, lautet eine Antwort. „Nein“, korrigiert sie, „aus Schwellkörpern, die sich mit Blut füllen können.“ Die durchschnittliche Größe des erigierten Gliedes liege im Übrigen bei 13,5 Zentimetern, die Varianz zwischen zehn und 16 Zentimeter. An dieser Stelle geht ein lebhaftes Raunen durch das Auditorium.
So finanziert sich die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung
Die gesamte Ärztliche Gesellschaft veranstaltete in den vergangenen zehn Jahren mit insgesamt rund 100 Ärztinnen und Ärzten im gesamten Bundesgebiet circa 50.000 solcher Informationsveranstaltungen mit fast einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Möglich wird diese Arbeit durch Projektgelder und Spenden. Die Ärztliche Gesellschaft ist auf verschiedene Institutionen wie Krankenkassen, Ministerien und Stiftungen angewiesen, die Projekte mit ihr durchführen. Diese laufen immer ungefähr ein bis drei Jahre – weshalb laufend neue akquiriert werden müssen.
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Dabei kann die Organisation auf sehr gute Bewertungen verweisen. Mehrere von wissenschaftlichen Einrichtungen wie z. B. dem IFT (Institut für Therapieforschung) in Kiel begleitete Evaluationen bescheinigen den Veranstaltungen einen signifikanten Erfolg bei Wissenszuwachs und Einstellung der Kinder und Jugendlichen sowie sehr hohe Akzeptanz der Maßnahme bei den Schülerinnen und Schülern. Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bewertet dieses mehrfach ausgezeichnete Konzept der ärztlichen Gesundheitsbildung in Qualität, Quantität und Kontinuität in Deutschland als einmalig.
Das Fazit der Schüler: „Wir konnten jede Frage stellen“
Auch die 14 Gymnasiasten sind nach den 90 Minuten sehr zufrieden mit dieser Informationsstunde. „Man konnte jede Frage stellen, das war sehr gut“, sagt zum Beispiel Philipp, 17. Vieles hätten sie schon gewusst, sagt ein anderer. „Aber dass ein Kondom bei richtiger Lagerung vier Jahre lang hält, bis das Verbrauchsdatum überschritten ist, wusste ich noch nicht“, sagt der 16-jährige Emilian.