Hamburg. Wie junge Mädchen aus gut situierten deutschen Familien im Rotlichtmilieu landen. Die Tricks der kriminellen Männer und Banden.
Milena war 14 Jahre alt, als ihr die vermeintlich große Liebe begegnete. Der Typ, der Zuneigung und Sympathie vorspielte, hatte sie im Internet kennengelernt. Bald danach folgte das erste Treffen, der erste Kuss, das erste Mal. Dass er älter war, störte Milena nicht. Der 30 Jahre alte Mann versprach ihr eine gemeinsame Zukunft – vorausgesetzt, sie sagt sich von ihrer Familie los.
Loverboys: Der erste Trick ist die emotionale Erpressung der jungen Mädchen
Milena musste alle Kontakte zu Eltern, Geschwistern und Freunden kappen. Was zunächst nicht schwerfiel, denn der permanente Streit zu Hause ging ihr auf die Nerven. Nach gut einem Jahr geriet ihr Freund in finanzielle Schieflage, er habe Schulden und werde deshalb mit Gewalt bedroht. Nur eine könne in dieser Situation helfen: Du, Milena.
Wie denn, fragt sie.
Loverboys: Die Männer sind bis zu 30 Jahre alt. Sie können aber auch älter sein.
Was jetzt folgt, ist eine kriminelle Masche im Rotlichtmilieu. Zum Beispiel auf St. Pauli und rund um die Reeperbahn in Hamburg-Mitte. Der Name Milena ist frei erfunden, der geschilderte Fall steht allerdings exemplarisch für viele Mädchen und junge Frauen in Deutschland, die zur Prostitution gezwungen werden. Die Täter sind häufig sogenannte Loverboys. Das hört sich verniedlichend an und bezeichnet junge Zuhälter im Alter von bis zu 30 Jahren. Oder auch älter. Sie täuschen Minderjährigen eine Liebesbeziehung vor, um sie eines Tages der Prostitution zuzuführen.
Prostitution: Der Teufelkreislauf, in dem die jungen Frauen gefangen sind.
Die Männer nutzen die Pubertät und die damit verbundenen Unsicherheiten und Konflikte aus, um die jungen Mädchen emotional abhängig zu machen. Zu ihrer Taktik gehört es, teure Geschenke zu machen. Nach Polizeiangaben gehen die organisierten Täter strategisch vor: Sie bauen über Monate eine so starke emotionale Beziehung auf, dass sich die Betroffenen nur schwer vom Zwang und den Forderungen des Täters entziehen können. Es ist ein Teufelskreislauf, in dem Frauen gefangen sind.
Seit August 2021 hilft ein Projekt der Diakonie in Hamburg den Mädchen und Frauen beim Ausstieg aus diesem Milieu. Die Einrichtung gehört zur diakonischen Fachberatungsstelle Prostitution „Sperrgebiet St. Georg“, in der seit 1985 Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen und Juristinnen, Beratung, Schutz und Unterstützung anbieten. „Fairlove“ heißt das Fachprojekt, das einen Beitrag zur Prävention der Prostitution Minderjähriger leisten will. Es klärt über die Loverboy-Methode auf und unterstützt zudem die Betroffenen dabei, neue Wege in Schule, Beruf oder Ausbildung zu finden.
Rotlichtmilieu: Hamburger Diakonie sucht die jungen Frauen im Rotlichtmilieu auf
Die Beratungen erfolgen kostenlos und anonym – persönlich, am Telefon und online. „Wir gehen auch in die Laufhäuser und Bordelle“, sagt die 40-jährige Anne, Projektleiterin von „Fairlove“ in der Lindenstraße. Aus Sicherheitsgründen veröffentlichen wir den vollen Namen nicht.
Milena musste insgesamt fünf Jahre in Modelwohnungen als Prostituierte arbeiten und befand sich komplett isoliert in der Hand ihres Zuhälters. Als die Gewaltübergriffe immer heftiger wurden und sie schließlich feststellte, dass sie nicht die Einzige war, meldete sich Milena bei der Telefonnummer von „Fairlove“. Endlich! Denn dort bekam sie Unterstützung für den Ausstieg. Später landete der Fall vor Gericht. Der Täter wurde zu 7,5 Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen Menschenhandels.
Laut dem Bundeslagebild Menschenhandel des Bundeskriminalamtes waren im Jahr 2020 rund 94 Prozent der Betroffenen sexueller Ausbeutung weiblichen Geschlechts – fast die Hälfte von ihnen unter 21 Jahren alt. Ein Viertel davon gab an, dass sie durch die Loverboy-Methode an die Prostitution herangeführt wurden.
Menschenhandel: Das sagt das Bundeslagebild über die aktuelle Situation im Land
Wie es im „Bundeslagebild über Menschenhandel und Ausbeutung“ des Bundeskriminalamtes heißt, haben die Polizeibehörden von Bund und Ländern im Jahr 2022 insgesamt 346 Ermittlungsverfahren im Bereich des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung abgeschlossen. In Hamburg waren es in diesem Zeitraum 21 Fälle. „Nach polizeilicher Erfahrung werden solche Opfer häufig vorab über die exakten Umstände ihrer Tätigkeit, wie z.B. Art und Ausmaß der Prostitutionsausübung, getäuscht“, heißt es in dem Lagebericht. Die Tatverdächtigen seien vorrangig deutsche, bulgarische und rumänische Staatsangehörige. Positiv bewertet das Bundeskriminalamt in diesem Zusammenhang die Arbeit von Fachberatungsstellen wie „Fairlove“ in Hamburg. Sie spielten für die „polizeiliche Arbeit sowie für die Identifizierung und Unterstützung der Opfer von Menschenhandel eine wichtige Rolle.“ „Ihre Bedeutung liegt hauptsächlich in der intensiven Beratungs- und Betreuungsleistung.“
Diakonie: Loverboys sind Experten für Manipulation. Und die Frauen gehen ihnen in die Schlinge
„Fairlove“ bietet Info-Veranstaltungen für Schulklassen, Wohngruppen und Jugendzentren an, berät und unterstützt Angehörige, vermittelt Kontakte zu weiteren Einrichtungen und Organisationen, zu Ärztinnen und Psychologinnen, kooperiert mit dem Landeskriminalamt. Wie hoch die Dunkelziffer dieser kriminellen Masche jenseits der polizeilichen Kriminalstatistik ist, macht eine Zahl deutlich: „In zweieinhalb Jahren haben wir bei „Fairlove“ in Hamburg circa 100 Mädchen und junge Frauen betreut“, sagt Anne.
Die Zuhälter gingen brutal vor und seien „Manipulationsexperten“. Die Betroffenen würden psychisch stark unter Druck gesetzt. „Sie haben Macht über die Mädchen“, die sich häufig nicht trauten, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Eine beträchtliche Zahl der Opfer stamme aus gut situierten deutschen Familien. Die Täter lockten sie mit den gängigen Statussymbolen – dem neuesten iPhone, Designer-Taschen, Brust-OPs und Schönheitsoperationen und einem Auto der gehobenen Mittelklasse. Einnahmen von 1000 Euro pro Tag durch die Modelprostitution seinen keine Seltenheit.
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Hamburg: Es gibt Prostituierte, die älter als 70 Jahre sind und noch immer in diesem Gewerbe arbeiten
Die gelernte Erziehungswissenschaftlerin arbeitet seit sieben Jahren für die Diakonie und sitzt gerade im großen Aufenthaltsraum von „Fairlove“. Kleidungsstücke und Schuhe liegen in der Kiste vor einem Spiegel, im Nebenraum befindet sich ein Vorrat an Konservendosen und Süßigkeiten. Hier haben die Frauen und Mädchen aus dem Rotlichtmilieu nicht nur eine Anlaufstelle, sondern auch einen Treffpunkt zum Klönen und zum Klamottenwechsel. Vor dem Spiegel veranstalten sie kleine Modenschauen und zeigen die Ergebnisse ihrer Schönheitsoperationen. „Hier können sie sich gehen lassen.“ Anne erzählt, wie in diesen Räumen 18-jährige Prostituierte mit Sexarbeiterinnen ins Gespräch kommen, die bereits 70 Jahre und älter sind.
„Einigen der Seniorinnen ist es zu langweilig zu Hause, deshalb kommen sie zu uns“, sagt Diakoniemitarbeiterin. Der gemeinsame Austausch sei allen wichtig. „Da geht es um Kosmetik genauso wie um Schwangerschaftsabbrüche, Verhütung, Regelblutungen, Kondome, Sicherheit auf der Straße und die Absicherung im Alter. Wir bieten einen Schutzraum für diese Frauen und wollen sie nicht belehren, sondern auf ihrem Weg begleiten. Die meisten von ihnen sind wahre Überlebenskünstlerinnen.“ Wenn sie den Ausstieg aus der Zwangsprostitution geschafft haben, hätten sie mit entsprechenden Hilfsangeboten Potenziale, sich ein neues Leben aufzubauen.