Hamburg. Jugendwerk der Hamburger Polizei kümmert sich ehrenamtlich um geschädigte Mädchen und Jungen mit Sport, Spiel und vielen Freizeitangeboten.
Polizeioberkommissarin Magdalene Goldbaum vom Langenhorner Polizeikommissariat 34 hat ihre Uniform an den Nagel gehängt und trägt an diesem trüben Montagnachmittag Sportkleidung. Mit einer roten Trainerjacke betritt sie eine Rahlstedter Turnhalle. Sie gehört zur Rudolf-Steiner-Schule und wird in der Gruppe, die sich gleich hier versammelt, Halle Rahlstedt genannt.
Sportvereinigung der Polizei hilft jungen Verkehrsopfern
Die Halle Rahlstedt ist eine von sechs ausgewählten Hamburger Sporthallen, die das „Gemeinnützige Jugendwerk Unfallgeschädigter Kinder in der Sportvereinigung Polizei e.V.“ nutzen kann. Hier werden Hamburger Polizisten einige Stunden lang zu Sportübungsleitern für jene Kinder, die einen Verkehrsunfall erlitten hatten.
Halle Rahlstedt verfügt neben der großen Fläche über Barren, Sprossenwände, Trampoline, Schwebebalken und sehr viele Bälle und wird vom Jugendwerk immer montags genutzt. Seit 59 Jahren betreuten besonders geschulte Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte wie Magdalene Goldbaum Mädchen und Jungen, die Opfer eines Verkehrsunfalls wurden. Wenn sie nicht mehr ärztlich oder physiotherapeutisch behandelt werden müssen, können sie die sportlichen und vielfältigen Freizeitangebote der Organisation nutzen. Selbstverständlich kostenlos.
Unfallgeschädigte Kinder: Sport in Rahlstedter Halle
„Diese Kinder sollen den Unfall spielend vergessen, die Polizei als Freund und Helfer erleben und mit sportlichen Aktivitäten mehr Selbstvertrauen gewinnen“, sagt Polizeioberkommissar Wolfgang Iser. Der Beamte arbeitet im Hamburger Landeskriminalamt. Jetzt aber, da er ebenfalls in roter Sportkleidung in Halle Rahlstedt steht und immer mehr Kinder eintreffen, engagiert er sich wie die anderen Kolleginnen und Kollegen ehrenamtlich in seiner Freizeit.
Verkehrsunfall: Das passiert Enno auf dem Schulweg
Enno ist da. Er freut sich mit strahlendem Lächeln auf Ballspiele und Trampolin. Der 12-Jährige besucht eine Schule in den Walddörfern und wurde vor zwei Monaten Opfer eines Verkehrsunfalls. „Ich war mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Schule. Dabei hat mir ein Auto die Vorfahrt genommen. Ich konnte ausweichen und bin auf den Bürgersteig gefallen. Zum Glück mit Helm“, erzählt er. Für die Hin- und Rückfahrt zum Termin in der Sporthalle Rahlstedt darf Enno ein Taxi nehmen; die Kosten übernimmt in begründeten Fällen das Jugendwerk Unfallgeschädigter Kinder.
Verkehrsunfall: Das passierte einer Neunjährigen
Satsamhar ist da. Die Neunjährige lief im vergangenen Jahr bei Rot über die Ampel, der Spiegel des vorbeifahrenden Autos traf sie am Arm. „Ich musste für eine Nacht ins Krankenhaus. Hier kann ich mit Sport lernen, wieder mutig zu sein“, sagt sie. Enno und Satsamhar tragen blaue Sportkleidung, auf dem Rücken der Shirts steht auf gelb-weißer Farbe „Jugendwerk“. Die Kleidung wird ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt.
Nun betritt Anne Neusüß die Halle. Die 22-Jährige will einmal Jugendübungsleiterin werden und engagagiert sich ehrenamtlich als Sportassistentin für das Jugendwerk. Mit gutem Grund. „Als ich sechs Jahre alt war, wurde ich auf einem Zebrastreifen von einem Auto angefahren. Der Fahrer hatte mich nicht gesehen.“ Anne erlitt Arm- und Beinbruch sowie ein Schädelhirntrauma, lag mehrere Monate im Krankenhaus. Als alles gut verheilt war, bekam sie Besuch vom Gemeinnützigen Jugendwerk Unfallgeschädigter Kinder. Das machte den Eltern das Angebot, an sportlichen Aktivitäten teilzunehmen.
Vom Unfallkind zur Sportassistentin
„Ich kann mich noch gut an Anne erinnern“, sagt Polizeioberkommissarin Magdalene Goldbaum. „Sie saß auf meinem Schoß“. Schon damals engagierte sich die Beamtin für die Organisation und half dabei, dass Anne buchstäblich wieder auf die Beine kam, Sicherheit und Resilienz gewann. Anne hält der Organisation bis heute die Treue und hilft, wo sie nur kann. „Ich verstehe sehr gut, was in den Kindern vorgeht, die einen Unfall erlitten haben. Ich kann dazu beitragen, dass sie wieder mit Vertrauen auf die Straße gehen. Gemeinsamer Sport und Spiel sind dafür sehr gut“, sagt sie.
45 Polizistinnen und Polizisten unterstützten gegenwärtig als Ehrenamtliche diese wichtige Arbeit. Wer hier, in dieser Abteilung der Sportvereinigung der Polizei, mitmachen will, muss in der Regel Polizist sein. Aber es gibt auch Ausnahmen. Zu ihnen gehört Marion Bemmer, die gerade in der Halle Rahlstedt die Anwesenheitsliste führt. Sie erfährt durch die ehrenamtliche Arbeit persönlich Sinn für ihr Leben und ist immer wieder tief berührt von den einzelnen Schicksalen der Kinder. Finanziert wird das Jugendwerk durch Spenden sowie zu einem geringen Teil durch Zuwendungen der Stadt aus dem Topf der eingenommenen Bußgelder. Ein Förderkreis unterstützt zudem die Arbeit. Wie das Jugendwerk auf seiner Website betont, bedeutet für jedes Kind ein erlittener Verkehrsunfall, ob als Opfer oder als Zeuge, ein einschneidendes Erlebnis. „Häufig wirken die seelischen Wunden sehr viel länger als die möglicherweise zugezogenen körperlichen Verletzungen und beeinträchtigen das alltägliche Leben der Kinder. Zum Beispiel können aufkommende Angst, geringeres Selbstbewusstsein, wenig Zutrauen oder Vertrauensverlust Ausdruck von einem nicht überwundenen Trauma sein.“ In diesen Fällen möchte das Jugendwerk mit seinen Sportübungsleitern helfen. „Durch Sport und Spiel in unseren Hallen wollen wir den Unfallkindern helfen, die Folgen zu überwinden.“
Verkehrsunfälle: Das sagt die Hamburger Statistik
In jenen Regionen der Stadt mit besonders ausgeprägten Unfallschwerpunkten für Kinder nutzt das Jugendwerk eine Turnhalle. Halle Rahlstedt gehört dazu, aber auch anderen Stadtbezirke sind betroffen. Laut polizeilicher Unfallstatistik waren im Jahr 2023 bei insgesamt 634 Verkehrsunfällen in Hamburg Kinder beteiligt. 447 davon wurden dabei verletzt, zwei leider getötet. „Die Tendenz der vergangenen Jahre bei der Unfallhäufigkeit mit Kindern ist zwar rückläufig, seit dem Coronaknick aber wieder leicht ansteigend“, sagt Wolfgang Iser. Verunglückten im Jahr 2000 bezogen auf 100.000 Kinder in Hamburg 436, so lag die Zahl im Jahr 2023 bei 245.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für ganz Deutschland verlieren glücklicherweise immer weniger Kinder ihr Leben im Straßenverkehr. Wurden in den 1950er Jahren noch über 1000 getötete Kinder pro Jahr gezählt, sank diese Zahl in den 1990er-Jahren auf unter 500 und lag 2001 bereits das elfte Mal unter 100 getöteten Kindern.
Sport und Spiel in Halle Rahlstedt sind vorbei. Auf Wiedersehen in der nächsten Woche! „Aber schon jetzt planen wir neue Aktivitäten“, sagt Wolfgang Iser. „Unsere Halle will einen Ausflug machen. An einem der nächsten Wochenenden geht’s zu den Karl-May-Spielen nach Bad Segeberg. Und im Herbst zu einer Freizeit Barkhausen .“ Die Eltern müssen dafür nichts bezahlen – was für ein Glück im Unfall-Unglück.
Website der Organisation:
www.jugendwerk-hamburg.de