Hamburg. Oskars Eltern überzeugt: Ihr Sohn hätte gerettet werden können. Stiftung klärt über plötzlichen Epilepsietod auf. 700 Tote jährlich.
In der Nacht vom 31. August auf den 1. September 2019 gerät das Leben von Iris-Maria und Johann Killinger aus den Fugen. Ihr Sohn Oskar verbringt das Wochenende bei seinen Großeltern. Der Johanneums-Schüler ist 14 Jahre alt, die Konfirmation liegt erst einige Monate zurück. Ein fröhlicher Junge, der schnell die Herzen seiner Mitmenschen gewinnt. Ein Teenager voller Lebensfreude.
Wie gewohnt geht Oskar abends ins Bett. Am nächsten Morgen will er zu seinem Rudertraining auf der Alster und später zurück zu seinen Eltern.
Epilepsie: Schrecklicher Anruf des Großvaters
Morgens, um 8.17 Uhr, klingelt das Telefon von Johann Killinger. Der Hamburger Unternehmer wird den Tonfall seines Vaters nie vergessen. „Johann, Oskar ist tot. Komm schnell.“ Der Großvater hatte soeben seinen Enkel tot im Bett gefunden, als er ihn aufwecken wollte. Die anschließende Obduktion ergibt: Oskar, bei dem drei Jahre zuvor Epilepsie diagnostiziert wurde, hatte in der Nacht einen epileptischen Anfall, der zum Atem- und Herzstillstand geführt hat.
Die Mediziner bezeichnen dieses Geschehen als plötzlichen Epilepsietod (Sudden Death in Epilepsy, abgekürzt: Sudep).
Quälende Fragen erfassen Oskars Eltern und Großeltern. Hätten sie seinen Tod verhindern können? Hätte Oskar lieber zu Hause bleiben sollen? Und vor allem: Wieso wurden sie von den Ärzten nicht über die Möglichkeit aufgeklärt, dass man an dieser neurologischen Erkrankung plötzlich sterben kann?
Oskar Killinger Stiftung will Aufklärung leisten
2020 gründen die Eltern die Oskar Killinger Stiftung. Ihr Ziel ist es, bis 2030 Aufklärung über Sudep und Präventionsmöglichkeiten normal zu machen. Denn zu groß ist das Gefälle zwischen dem, was die Epilepsieärzte wissen und dem, was sie ihren Patienten nicht über diese tückische Erkrankung erzählen.
Epilepsie: 700 Menschen sterben jährlich an Sudep
Mit fatalen Folgen: Jährlich sterben allein in Deutschland etwa 700 oftmals junge Menschen am plötzlichen Epilepsietod– jeder 1000. Patient. Es ist die häufigste Todesursache bei Menschen mit Epilepsie und Fachärzten seit Jahrzehnten bekannt. Etwa 70 bis 80 Prozent dieser Todesfälle sind wissenschaftlichen Schätzungen zufolge vermeidbar – wenn die Betroffenen aufgeklärt sind, optimale Therapien erhalten und Vorsorgemaßnahmen treffen können, sagen Experten.
Aber tatsächlich sprechen die meisten Fachärzte mit ihren Patienten überhaupt nicht über dieses dramatische Risiko.
Oskars Mutter: Mangelhafte Aufklärung über plötzlichen Epilepsietod
„Wir wollen Epilepsieärzte dazu bringen, ihren Informationspflichten nachzukommen“, erklären die beiden promovierten Juristen. Sie kritisieren besonders die mangelnde Aufklärung in Hamburg und beschreiben die Stadt als „Insel der Ignoranz bei Epilepsie“. „Selbst in den Fachzentren erfahren die Patienten so gut wie gar nichts über Sudep und Präventionsmöglichkeiten“, kritisiert Iris-Maria Killinger, Fachanwältin für Strafrecht.
Zwei Drittel der Sudep-Fälle treten nachts auf, heißt es beim Deutschen Epilepsiezentrum für Kinder- und Jugendliche an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Epilepsie ist ein „Regenschirmbegriff“ für eine chronische Erkrankung des Gehirns unterschiedlicher Ursachen, die zu epileptischen Anfällen führen. Allein in Deutschland leben circa 800.000 Menschen mit Epilepsie, darunter sind rund 30.0000 bis 60.000 Kinder. Pro Jahr erkranken etwa 60 von 100.000 Kindern an einer Epilepsie.
Epilepsie: Das passiert bei den Anfällen
„Bei den Anfällen kommt es zur Veränderung des Bewusstseins, der Wahrnehmung oder der Bewegung als Folge einer Störung der elektrischen Hirnaktivität (Funktionsstörung)“, heißt es im umfangreichen „Informationsmaterial für Kinder und Jugendliche mit Epilepsie und deren Familien“, das die Charité erarbeitet hat. „Unmittelbar nach schweren Anfällen kann es, gerade wenn sie im Schlaf auftreten, zum Atemstillstand kommen. Das ist ein medizinischer Notfall, auf den man vorbereitet sein muss“, ergänzt Iris-Maria Killinger, die sich nach dem Tod ihres Sohnes als Geschäftsführerin der Oskar Killinger Stiftung engagiert und damit auch ein Stück ihrer Trauer bewältigen will.
Epilepsie: Wo das Risiko eines Anfalls hoch ist
Dass epileptische Anfälle im Schlaf ein hohes Sudep-Risiko bergen, wussten Oskars Eltern nicht. Im Gegenteil: Oskars Arzt habe stets betont, dass sich die Eltern keine Sorgen machen sollten und ganz normal weiterleben sollten. „Wenn wir jeden Patienten über Sudep aufklären würden, müsste ja ein 14-Jähriger noch bei seiner Mutter im Bett schlafen“, habe der Arzt zu den Eltern gesagt – nach dem Tod ihres Sohnes.
„Schonendes Verschweigen“ nenne der Arzt dieses Kommunikationsverhalten. Gegen ihn liefen, so Johann Killinger, zivil- und strafrechtliche Verfahren wegen fahrlässiger Tötung durch unterlassene Aufklärung. „Wenn wir als Eltern ordnungsgemäß aufgeklärt worden wären, wäre das nicht passiert. Aber wir erhielten keine weitergehenden Informationen über Epilepsie, keine Informationsblätter, keine Hinweise auf Internetseiten oder Patientenorganisationen.“
Charité-Medizinerin unterstützt Kampagne
Die Oskar Killinger Stiftung setzt sich mit einer bundesweiten Kampagne für umfassende Aufklärung über den plötzlichen Epilepsietod ein. Dabei wird sie von renommierten Medizinern unterstützt: Professorin Angela M. Kaindl, Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit dem Schwerpunkt Neurologie und Ärztliche Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) an der Berliner Charité. „Wir möchten unsere Patientinnen und Patienten nicht in Panik versetzen. Vielmehr soll die Aufklärung über die Risiken den betroffenen Familien ein selbstbestimmtes und geschütztes Leben ermöglichen“, sagt sie. Gerade Kinder und Jugendliche mit therapieschweren Epilepsien hätten ein hohes Risiko, Komplikationen zu erfahren.
Die „stopSudep“-Kampagne wird seit Anfang 2024 in 13 deutschen Großstädten auf Außenwerbeflächen der Wall GmbH gezeigt; in Hamburg erneut ab Mitte Juli. Die einzelnen Kampagnen-Spots zeigen Menschen, die selbst an Epilepsie erkrankt sind, sowie ihre Angehörigen. „Der beste Schutz gegen SUDEP: Eine Familie, die sämtliche Risiken kennt“, heißt es etwa auf einem Bild der Fotografin Esther Haase, die dieser Kampagne mit ihren ausdrucksstarken Motiven ein Gesicht gibt. Sie zeigt keine duldsamen Betroffenen, sondern starke und selbstbewusste Menschen, die dank umfassender Aufklärung ein selbstbestimmtes Leben mit Epilepsie führen können – wie sich es Iris-Maria und Johann Killinger für Oskar gewünscht hätten.
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Charité: Prävention ist optimale Therapie
Nach Angaben der Charité ist die beste Prävention eine optimale Therapie. Zudem stelle das Alleine-Wohnen beim Übergang von Kindheit zum Erwachsenenalter einen Risikofaktor dar, der gut begleitet werden sollte. Technische Hilfsmittel zur Anfallsüberwachung oder die nächtliche Anwesenheit einer anderen Person sollten erwogen werden. Für den Ernstfall sollten Eltern und Angehörige ihre Kenntnisse in Erste-Hilfe-Maßnahmen auffrischen. Eine rasch einsetzende kardiopulmonale Reanimation innerhalb von wenigen Minuten nach Anfallsende kann nach Studienergebnissen (Mortemus-Studie) Sudep verhindern.
Oskars Eltern sind mit der Stiftung längst in einem interdisziplinären Austausch mit Ärzten, Ärztekammern, Pharmaunternehmen und Politik und fordern ein zeitgemäßes Verhalten. „Epilepsie-Ärzte müssen endlich das machen, was das Gesetz von ihnen verlangt: Patienten zu informieren und dadurch zu befähigen, informierte Entscheidungen zu treffen“, fordern die Eltern.
Das sind sie ihrem Oskar schuldig.