Hamburg. Der HSV engagiert sich in seiner Inklusions-Arbeit auch für Demenzkranke – ein Stadionbesuch mit dem eigenen Vater.
Mein Nachbar weit oben auf der Nordosttribüne im Volksparkstadion redet nicht viel, aber oft das Gleiche, und das in mehr oder minder kurzen Abständen. „Dass so viele Zuschauer hier sind, wundert mich.“ – „Ganz schön viele Besucher für das Spiel.“ – „Fast ausverkauft.“ – „Gut besucht.“ – „Voll, das Stadion.“ – „Dass so viele Leute hier zum Fußball gehen, Wahnsinn.“
Der Sitznachbar ist mein bald 88 Jahre alter Vater, der an Demenz erkrankt ist. Genau wissen Familie und Freunde nicht, wann es begonnen hat. Bemerkt haben wir es erst vor gut anderthalb Jahren, als seine Wiederholungen sowie das sofortige Vergessen des gerade Geschehenen auffällig wurden und nicht mehr mit Alterstüdeligkeit abzutun waren.
Demenz: Fußball als gutes Medium für inklusive Angebote
Das Stadion ist tatsächlich mit 57.000 Zuschauern ausverkauft. Mein Vater und ich sind Gäste des HSV beim Spitzenspiel gegen Holstein Kiel. Wie sehr er daran Anteil nimmt, ist nicht erkennbar, aber er lächelt zufrieden, fragt ab und zu, wer der Gegner sei und ob der besser in der Tabelle stehe. Er scheint sich wohlzufühlen – weder die vielen Menschen noch die lautstarke Geräuschkulisse oder die von Fans auf der nahen Nordtribüne entzündeten Bengalos beunruhigen ihn.
Dass wir an diesem Abend hier sitzen, hat mit dem Engagement derjenigen zu tun, die Demenz als unaufhaltsam wachsendes Problem erkannt haben, das mehr Aufmerksamkeit, Aufklärung und Verständnis in einer breiteren Öffentlichkeit braucht. Menschen wie Claudia Unruh, die sagt: „Der Fußball ist ein geeignetes Medium für inklusive Angebote, weil er die Gesellschaft breit abbildet. Und er kann bei Demenzkranken positive Erinnerungen wecken und damit deren Stimmung und Wohlbefinden verbessern.“
HSV-Erinnerungskoffer wurde in der VIP-Lounge präsentiert
Claudia Unruh ist HSV-Fan, vor allem aber hat sie das Programm der Aktionstage Demenz in Hamburg mitgestaltet, die seit 2014 jedes Jahr rund um den Welt-Alzheimertag am 21. September stattfinden. In diesem Programm, das 2023 auch vom Verein Türkische Gemeinde Hamburg und Umgebung als interkulturelles Angebot unterstützt wurde, präsentieren verschiedenste Akteure in den Hamburger Bezirken ihre Arbeit mit Demenzkranken – von Pflegeeinrichtungen, Medizinern und Sozialpolitikern bis hin zu Kirchen, der Kunstklinik Eppendorf, einer Tanzschule oder eben dem HSV, der im vergangenen Jahr in der VIP Lounge des Volksparkstadions seinen Erinnerungskoffer vorstellte.
Auch mein Vater hat 2023 in diesem Koffer gewühlt, sich alte Fotos, Zeitungsausschnitte und Eintrittskarten angesehen, während im Hintergrund auf einer Leinwand Spielszenen vom größten Erfolg des HSV gezeigt wurden, dem 1:0-Sieg gegen Juventus Turin im Finale des Europapokals der Landesmeister 1983. Er hat den Ball, die abgenutzten Fußballschuhe, die Fan-Kutte und die Plüschversion von Dino Hermann, dem Vereins-Maskottchen, berührt — und sich an manches erinnert, was ihn mit Fußball und dem HSV verband.
„Unsere Idee ist komplett aufgegangen“, sagt Fanny Boyn, Fanbeauftragte beim HSV mit Schwerpunkt Inklusion. Zusammen mit dem Studiengang Pflege der HAW Hamburg wurde 2018 das Konzept für den HSV-Erinnerungskoffer ausgearbeitet, mit dem geschulte ehrenamtliche Helfer Pflegeeinrichtungen besuchen, um über das Thema Fußball mit Demenzkranken ins Gespräch zu kommen. „Wir wussten, dass es in diesen Einrichtungen viele Angebote gibt, die vor allem Frauen ansprechen, Männer aber eher nicht, was dazu führen kann, dass die sich komplett zurückziehen. Der Koffer ist ein typisches Männer-Angebot, das sie dazu anregen soll, Geschichten zu erzählen und miteinander zu reden.“ Nach einem Corona-bedingt schwierigen Start seien inzwischen fünf dieser Koffer im Einsatz und so sehr nachgefragt, dass man gern zusätzliche Ehrenamtliche für die Präsentation gewinnen möchte, sagt Fanny Boyn.
35.000 Menschen mit Demenz leben in Hamburg
Anlass für dieses Angebot war beim HSV die Erkenntnis, dass Demenzerkrankungen zu einem so großen Problem in unserer Gesellschaft geworden sind, dass auch hier inklusive Konzepte des Klubs, der seit einigen Jahren bereits spezifische Angebote zum Beispiel für Menschen mit eingeschränkten Hör- und Sehfähigkeiten macht oder 130 Rollstuhl-Plätze bietet, gefragt seien. Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer schrieb 2023 in ihrem Geleitwort zu den Aktionstagen, dass etwa 35.000 Menschen mit Demenz in Hamburg lebten und die Tendenz steigend sei. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft berichtete Ende 2021, dass schon damals fast 1,8 Millionen Menschen in Deutschland von unterschiedlichen Formen der Demenz betroffen seien.
Die beunruhigenden statistischen Daten sind eine Sache; den Einzelnen zu erreichen, der an Demenz leidet, eine andere. Das versucht der HSV neben den „Auswärtsspielen“ mit dem Erinnerungskoffer in Pflegeeinrichtungen auch im eigenen Stadion mit Gruppen-Angeboten für demenzkranke Gäste im HSV-Museum oder bei einem echten Heimspiel der Zweitliga-Mannschaft, auch für individuell planende Besucher, denen ermäßigte Tickets für die Erkrankten und ihre Begleiter angeboten werden.
Die Hamburgische Brücke engagiert sich intensiv rund um das Thema Demenz
Wie wichtig es ist, dass an Demenz erkrankte Menschen sichtbar bleiben und viele Kontakte zu der Welt halten, die ihnen abhandenkommt, weiß Kirsten Arthecker aus der Praxis. Sie ist Geschäftsführerin des Vereins Gesellschaft für private Sozialarbeit „Hamburgische Brücke“, der sich seit zehn Jahren mit seinem „Demenzdock“ und weiteren Angeboten intensiv um das Thema kümmert, Beratung, Besuchsdienste, Tagespflege und eine Wohnpflegegemeinschaft sowie kulturelle Aktivitäten anbietet.
Kirsten Arthecker sagt: „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Demenz ein Risiko für alle ist. Ich wünsche mir mehr Respekt, Betroffene und ihre Familien fühlen sich oft isoliert. Auch deshalb gehen wir mit den Menschen, die bei uns betreut werden, ins Quartier und zeigen uns.“ Es gehe zudem darum, die von Demenz Betroffenen in ihren Stärken zu erleben, ihre Fähigkeiten zu erhalten und sie Freude erleben zu lassen. Arthecker sagt, es sei ein Glücksmoment, wenn sie zum Beispiel beim Brücke-Programm „Wir tanzen weiter“ Tanzpaare beobachte und nicht wisse, wer von Demenz betroffen sei und wer nicht.
Treffen mit Clubmanager Bernd Wehmeyer
Im Stadion ist inzwischen Halbzeit, mein Vater und ich müssen uns beeilen, weil wir einen längeren Weg durchs Stadion vor uns haben. Wir sind mit Bernd Wehmeyer verabredet, heute Clubmanager und Vizepräsident des HSV e. V., als Spieler 1983 Europapokalsieger der Landesmeister sowie dreifacher deutscher Meister. Auf unserem verschlungenen Weg durchs Gedränge habe ich das Gefühl eines Rollentausches: 1965, bei meinem ersten Besuch mit dem Vater im überfüllten alten Volksparkstadion, hatte ich als Achtjähriger Angst, dass ich verloren gehen könnte – diesmal habe ich Angst, dass mein Vater in der Menschenmenge verloren geht …
Bernd Wehmeyer begrüßt uns und plaudert freundlich mit meinem Vater, der sich sofort an ihn zu erinnern scheint. Wehmeyer engagiert sich gern im Inklusionsprojekt des HSV, auch er hat in der Familie schmerzliche Erfahrungen mit dem Thema Demenz gemacht. Er ist begeistert vom Erinnerungskoffer („beeindruckend, was man mit geringen Mitteln damit auslösen kann“) und erzählt, dass er selbst erlebt hat, wie der Inhalt bei einem dementen Mann „die Freude von damals wieder aufleben ließ“ und der durch das Stichwort Jürgen Werner dazu angeregt wurde, die komplette Aufstellung der Mannschaft von 1960 „runterzurattern“.
„Viel Spaß noch!“, sagt Wehmeyer nach zehnminütigem Talk. „Dir auch“, antwortet mein Vater und klopft ihm auf die Schulter – Abschied von einem alten Bekannten.
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Der HSV allerdings sorgt an diesem Abend für kein Happy End und verliert das Spiel in der zweiten Halbzeit, womit der Wiederaufstieg in die Bundesliga verspielt ist. Mehr Sorge macht meinem Vater aber, dass er seinen Autoschlüssel nicht findet und nicht weiß, wie wir jetzt nach Hause fahren sollen. Auf dem Weg zu meinem Auto erzähle ich ihm einmal mehr, dass er schon lange kein Auto mehr besitzt.
Auf der Rückfahrt lächelt er und scheint zufrieden. Ich frage: „Wie hat’s dir gefallen?“ Gegenfrage: „Was?“ – „Na, das Spiel.“ – „Gut.“ – „Auch wenn der HSV nicht gewonnen hat?“ – „Ach, das ist ja nicht so wichtig.“