Hamburg. Seit 2018 bietet der Deutsche Alpenverein zwei inklusive Klettergruppen an, in denen Sportler mit und ohne Behinderung trainieren.
Heute „King Kong in Hagenbeck“? Oder lieber „Richtig oben bist du nie“? Die Routen im Kletterzentrum des Deutschen Alpenvereins (DAV) haben Namen. Und Schwierigkeitsgrade. Da muss man entscheiden, welche man angehen möchte mithilfe eines Partners, der einen sichert.
Aber, ach, eigentlich ist das auch nicht so wichtig. Hauptsache hoch. „Ich kann beim Klettern wunderbar den Kopf frei kriegen“, sagt Marc Köster (24), „an der Wand schalte ich ab und kann alles um mich herum vergessen.“
Alpenverein mit Werner-Otto-Preis ausgezeichnet
So soll das sein. Köster hat Probleme mit seiner Sehfähigkeit bis hin zu einer Wahrnehmungsstörung, wenn er seine Augen bewegt. Sportarten, bei denen schnelle Objekte fliegen, sind nichts für ihn. Rückschlagspiele wie Tennis? Vergiss es. „Ich hasse Ballsportarten mit der schnellen Bewegung.“ Aber beim Klettern, wo nur er das Tempo bestimmt, da findet er körperliche Anstrengung und zugleich innere Ruhe.
Marc Köster trainiert beim Alpenverein in einer von derzeit zwei integrierten Klettergruppen, wo Menschen mit und ohne körperliche Einschränkungen gemeinsam ihren Sport treiben. Die Sektion Hamburg-Niederelbe des DAV ist für dieses Projekt Anfang Januar von der Alexander-Otto-Sportstiftung im Rathaus mit dem Werner-Otto-Preis im Hamburger Behindertensport ausgezeichnet worden.
„Das Kletterangebot des Deutschen Alpenvereins ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sich Menschen mit und ohne Handicap gegenseitig hochziehen und damit motivieren, sportlich aktiv zu sein“, lobte Innen- und Sportsenator Andy Grote bei der Preisverleihung.
Weltmeisterin im Parakanu: Auch Athletin Lillemor Köper klettert
Lillemor Köper macht sich an diesem Dienstag erst einmal richtig warm, bevor sie die Wand in Angriff nimmt. Dann streift sie die Knieschützer über, um sich nicht zu verletzen. Köper ist Leistungssportlerin, sie sitzt zwar im Rollstuhl, bringt aber ganz andere körperliche Voraussetzungen mit, als viele andere in der Gruppe.
Die 39-Jährige ist immerhin zweimalige Welt- und Europameisterin im Parakanu. „Mir bringt das Klettern enormen Spaß, das ist eine tolle Ergänzung zum Kanutraining“, sagt sie, „man macht auch viel unbewusst und trainiert den ganzen Körper.“
Mit dem Rollstuhl fährt sie ganz dicht an die Wand, wird gesichert und zieht sich dann ausschließlich mit Armkraft an den unterschiedlich farbigen Griffen und „Nupsis“ hoch. Ab und an stellt sie einen Fuß zur Stabilisierung auf einen Tritt. „Es ist unglaublich, was sie kann“, sagt Trainerin Kerstin Krüger, „sie zeigt aber auch, dass es kaum Grenzen gibt.“
Deutscher Alpenverein: 17 Sportler trainieren Montag und Dienstag
Seit 2018 gibt es das Angebot im DAV. 17 Sportler sind derzeit aktiv in zwei Gruppen am Montag und am Dienstag. Die Teilnehmer in der Montagsgruppe von Trainer Michael Henningfeld sind jünger, hier kommen auch Kinder und Jugendliche, die auch von Eltern begleitet werden. „Möchtest Du Deine Grenzen bewusster kennenlernen und über sie hinauswachsen?“, fragt der DAV in einer Broschüre. Und die Antwort soll natürlich JA! heißen.
Johnny Henkeshoven ist 64 und ein Gründungsmitglied der Gruppe. Er leidet an einer fortschreitenden Erblindung, das Sehvermögen ist schon ganz erheblich eingeschränkt. „Als Teenager bin ich noch in den Alpen geklettert“, erzählt er. Das geht schon lange nicht mehr – und die fortschreitende Erkrankung trug sicher zur Entwicklung einer Depression bei.
Deutscher Alpenverein: Mancher lernt durch das Klettern „Grenzen zu akzeptieren“
Für Johnny geht es nicht darum, Grenzen zu überwinden. „Ich musste lernen, für mich neue Grenzen zu akzeptieren“, erzählt er, „ich muss Abstriche machen.“ Aber das zu akzeptieren fällt in einer solidarischen Gemeinschaft viel leichter. „Ich freue mich, wenn ich manche Dinge noch schaffe“, sagt er. Und wenn die „Tagesform“ kein Klettern zulässt, dann hilft er beim Sichern. Jeder ist wichtig.
Jan Wehnke ist durch seine Frau Katrin zum Klettern gekommen. Er hatte keinen Bezug zu dem Sport. Er hat auch keine Einschränkungen, seine Frau aber leidet unter psychischen Problemen und hat die Klettergruppe für sich entdeckt. „Ich bin dann aus Interesse mal mitgekommen, und es hat Spaß gemacht“, berichtet er: „Es hat mich sofort von Alltagsgedanken befreit. Aber wichtiger ist noch: Katrin und ich haben so die Chance, gemeinsam einen Sport zu treiben.“
Alpenverein Hamburg: 13 ehrenamtliche Trainer arbeiten in den Inklusionsgruppen
Insgesamt 13 ehrenamtliche Trainer, die speziell für die Arbeit mit Sportlern mit Behinderung ausgebildet wurden, betreuen die beiden Gruppen. Im Kletterzentrum wurden maßgeschneiderte Klettergriffe installiert und Ganzkörpergurte angeschafft.
Der DAV kann sich zudem über eine Förderung von 70.000 Euro durch den Bezirk Eimsbüttel für den behindertengerechten Ausbau der Sanitäranlagen in seiner Anlage in Lokstedt freuen, die auf eine Initiative der Grünen, der CDU und der SPD in der Bezirksversammlung zurückgeht. Zudem ist der Zugang zu den Kletterhallen teilweise nicht ebenerdig und für Rollstuhlfahrer ohne Hilfe nicht zu schaffen.
Werner-Otto-Preis: 15.000 Euro werden für neues Material verwendet
15.000 Euro Preisgeld gab es für den Werner-Otto-Preis. Diese wirklich unverhoffte Gabe (man sah es an der gerührten, ungläubigen Reaktion der Geehrten) soll direkt für die Gruppe verwendet werden. „Wir wollen einen speziellen Rollstuhl anschaffen, der es ermöglicht, dass auch Rollstuhlfahrer mit auf eine Klettertour an echte Felsen kommen“, erzählt Kerstin Krüger.
Zum Mittelgebirgszug Ith im Weserbergland fahren sie gerne gemeinsam, einschließlich campen. Auch dafür braucht es noch Materialien, Gurte, spezielle Seilaufbauten. Das kostet alles, vieles geht jetzt einfacher.
Idealerweise kann die Gruppe weiter wachsen. An eine Klettergruppe für Menschen mit MS ist gedacht. Silke Plotz leidet an dieser fortschreitenden Erkrankung des zentralen Nervensystems. Sie kam im vergangenen Sommer mal zum „Schnuppern“ vorbei. Und ist geblieben – „Es bringt Spaß.“ Sie ist aber auch überzeugt davon, dass Klettern den Verlauf der Erkrankung verlangsamt. „Ich kann in den Beinen nicht mehr die Kraft entwickeln, wie ich es gerne hätte“, sagt sie, „trotzdem will ich die Muskulatur fordern. Ich werde auf jeden Fall dranbleiben.“
Deutscher Alpenverein: Klettern nach dem Motto „klein und gemein“
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Auffällig ist die große Herzlichkeit und Empathie, mit der die Sportler miteinander umgehen. „Die Gruppe ist einfach super nett“, sagt Lillemor Köper, die als Sportlerin in ihrem Kanu auf sich allein gestellt ist. Doch das sich gegenseitige Sichern fördert auch Rücksichtnahme und das Aufeinandereingehen. Und den sozialen Zusammenhalt. Die regelmäßigen, gemeinsamen Spieleabende am Dienstag sind deshalb auch extrem beliebt. „Klein und gemein“ heißt eine der Routen in der Kletterhalle. Das ist komplett unpassend – jedenfalls für die Integrationsgruppe im DAV.
Wer sich für die Klettergruppe interessiert und sich vielleicht mal ausprobieren möchte, ist herzlich willkommen. Auf der Internetseite https://www.dav-hamburg.de/dav/inklusion finden sich weitere Informationen. Bei der E-Mail-Adresse Inklusion@DAV-Hamburg.de kann man sich zum Probetraining anmelden.