Hamburg. Die Stiftung Rauhes Haus betreut im Pergolenviertel in der City Nord Menschen mit psychischen Leiden und zusätzlichem Pflegebedarf.
Susanne Schugk hat an diesem Morgen gute Laune. Sie sitzt in der gemütlich eingerichteten Wohnküche in der City Nord am Tisch und wartet auf ihre Mitbewohner, während draußen der Winter das Pergolenviertel mit viel Schnee und Minusgraden im Griff hält. Sie wollen noch vor dem Mittagessen ein bisschen Karten spielen. Uno.
Wohngemeinschaft: Kartenspiel und Mittagessen
Susanne Schugk scherzt, wie es so ihre Art ist. 26 Jahre alt sei sie, nun ja: Sie liebt wie so viele mit zunehmendem Alter solche Zahlendreher und lächelt verschmitzt. Bis die letzte Uno-Karte abgelegt wird, vergeht noch einige Zeit. Dann heißt es: „Bruno, Kuno, Uno!“
Susanne Schugk lebt seit Oktober 2022 mit drei weiteren Frauen und vier Männern in einer ganz besonderen Wohngemeinschaft in der City Nord. Man könnte sagen: Die Bewohnerinnen und Bewohner haben das große Los gezogen. Die Stiftung Das Rauhe Haus betreut im neuen Pergolenviertel zwei nebeneinanderliegende Wohnungen mit je vier Appartements und Gemeinschaftsräumen, um Menschen mit psychischen Erkrankungen und zusätzlichem Pflegebedarf ein angemessenes Wohnangebot unterbreiten zu können.
Rauhes Haus: einzigartiges Wohnkonzept
„Mit diesem neuen Konzept ermöglichen wir Menschen mit erheblichem Unterstützungsbedarf ein selbstbestimmtes Leben bei gleichzeitiger ambulanter Pflege und pädagogischer Betreuung“, sagt Lena Berdel, Regionalleiterin Nord beim Rauhen Haus. Das bislang erste Angebot des Rauhen Hauses in diesem Spektrum fasst Leistungen der Eingliederungshilfe und Pflege zusammen und stößt in der Fachwelt auf breites Interesse.
Die Leistungen werden über die Sozialgesetzbücher abgedeckt, sowohl Eingliederungshilfe (SGB IX) als auch häusliche Krankenpflege (SGB V), Leistungen aus der Pflegeversicherung (SGB XI) und Hilfe zur Pflege (SGB XII). „Die Bewohnerinnen und Bewohner haben eigene Mietverträge und erhalten die sozialpädagogischen und pflegerischen Leistungen durch ein Team des Rauhen Hauses“, sagt Anke Pieper, Sprecherin der Stiftung Rauhes Haus.
Unter einem Dach zusammenleben: Borderline, Schizophrenie, Depressionen
Wer hier wohnt, leidet schwer an psychischen Krankheiten. Das Spektrum reicht von Schizophrenie, Bipolarer Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung bis zu Depressionen. Mehr noch: Wer hier einzieht, hat mindestens Pflegegrad 3 und meist chronische Erkrankungen. Voraussetzung für den Wechsel in dieses einzigartige Wohnprojekt ist ein Mindestalter von 60 Jahren. Die Bewohner und Bewohnerinnen können so lange bleiben, wie sie möchten – eine ungewohnte Sicherheit für psychisch erkrankte Menschen, die bei hohem Pflegebedarf in der Regel in Pflegeheime umziehen müssen, obwohl viele dort nicht immer adäquat untergebracht sind.
Wohngemeinschaft: Ein Mieter baut Bullaugen für Airbus ein
Stefan Dürkop sitzt an diesem Morgen als einziger Mann mit am Küchentisch. Wegen Eises und Glätte wird er heute zu Hause bleiben und nicht arbeiten gehen. Er hat einen kleinen Job in einer Alsterdorfer Werkstatt, in der er beim Einbau von Bullaugen in Airbus-Flugzeuge mithilft. Den Fußweg zum Arbeitsplatz von 30 Minuten nimmt er gern in Kauf. „Denn wer rastet, der rostet.“
Es gab Tage, da überfiel ihn die Sorge, er müsse sein Appartement für immer verlassen. Als würde ein schöner Traum plötzlich platzen und er sich in einem Pflegeheim wiederfinden. Pflegefachkraft Lynn Nestler kann ihn in solchen Situationen beruhigen. „Bei uns muss keiner raus“, sagt sie.
So leben psychisch kranke Menschen in Hamburg
Die Versorgung psychisch erkrankter Menschen in Hamburg ist in den vergangenen Jahren zwar besser geworden, aber immer noch schwierig. Es gibt schlichtweg zu wenige adäquate Wohnangebote. „Wenn der Pflegebedarf älterer Menschen wächst, kann die Einrichtung, in der sie leben, darauf nicht immer entsprechend reagieren, und sie müssen in ein Pflegeheim umziehen,“ sagte Birte Kruse, Leiterin des Stiftungsbereichs Sozialpsychiatrie beim Rauhen Haus.
Im Winterhuder Pergolenviertel erhalten die Bewohner eine angemessene Betreuung rund um die Uhr und können in einem kleinen, abgeschlossenem Appartement mit eigener Küchenzeile und Bad leben.
Pergolenviertel: wohnen auf 30 Quadratmetern
Wie Ursula Guckel (80), die Mieterin der ersten Stunde. Auch ihr Appartement ist rund 30 Quadratmeter groß, der Blick geht hinaus ins Grüne. Als Sitzmöbel im Wohnzimmer, die neben dem Bett stehen, dienen Gartenstühle mit Polsterauflagen. Was wirklich sehr praktisch ist: Denn Ursula Guckels Wohnung verfügt über eine abgegrenzte, kleine Terrasse, die sie in der schönen Jahreszeit gern nutzt. Den Bewohnern steht ein zwölfköpfiges Team aus Pflegekräften, Sozialpädagogen, Assistenten und FSJlern zur Seite. Im rund 30 Meter entfernten Büro ist rund um die Uhr jemand zu erreichen. 50 Prozent der Arbeitszeit gehen in die psychosoziale Betreuung, 50 Prozent in die Pflege.
Rauhes Haus: Wo Pflegekräfte Zeit für Menschen haben und sie besser betreuen können
Pflegefachkraft Lynn Nestler ist dankbar für diesen Job. Die gelernte Altenpflegerin und Praxisanleiterin hat den Wechsel ins Pergolenviertel nicht bereut. „Ich habe hier in der Arbeit mehr Freiheiten, kann selbst entscheiden, und ich gehöre zu einem tollen Team. Die Zeit, die ich den Bewohnern widmen kann, ist größer als in Einrichtungen der Altenpflege.“
Wohngemeinschaft: Hier gibt es nur wenige Regeln
Das Kartenspiel ist zu Ende, die Morgenrunde ist hungrig auf das Mittagessen geworden, das sie in der Regel gemeinsam zubereiten. Es gibt Tage, da will der eine oder die andere lieber im Bett liegen bleiben. Mit einiger Überredungskunst locken jedoch die Mitarbeiter die Bewohner aus dem Bett, preisen das leckere Frühstück und Mittagessen an. Und als besonderer Service schmiert die eine dem anderen ein Butterbrot. So hilft man sich gegenseitig, wenn das Leben wieder aus dem Lot geraten ist.
Weitere Bewohner kommen jetzt in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Heute stehen Bratkartoffeln mit Rührei auf dem Speiseplan, der eine Woche zuvor besprochen wurde. Damit möglichst viele Wünsche berücksichtigt werden. „Ich möchte das Rührei gern extra“, sagt Ursula Guckel.
Wer möchte, kann in der großen Gemeinschaftsküche mit anderen frühstücken oder sich allein in der eigenen Wohnung eine Mahlzeit zubereiten. Mittags essen jedoch alle zusammen und zahlen dafür pro Portion 3 Euro. Regeln gibt es wenige. „Denn eigentlich klappt alles von allein.“
Das Pergolenviertel lässt Platz für 171 Kleingärten
Die Gemeinschaft hält zusammen, so gut es geht – und jeder mitzumachen bereit ist. „Wir haben sogar ein Liebespaar“, flüstert eine Bewohnerin. Und lacht. Sobald die Tage wieder länger und wärmer werden, erkunden die Bewohner das Pergolenviertel. Es erstreckt sich auf einer Fläche von 27 Hektar von der Hebebrandstraße im Norden bis zur Alten Wöhr im Süden und bietet mittendrin Platz für 171 Kleingärten.
Mit rund 1700 Wohneinheiten, die seit 2016 entstehen, ist es das größte Neubauquartier im Bezirk Hamburg-Nord. Das Viertel zeichnet sich durch seine Vielfalt an unterschiedlichen Wohnformen aus, heißt es beim Quartiersmanagement. So entstehen neben klassischen Miet- und Eigentumswohnungen auch zielgruppenorientierte Angebote, darunter Wohnungen für Studierende sowie mehrere Pflege- und Assistenz-Wohngemeinschaften.
Wie dieses Wohnprojekt des Rauhen Hauses. Es ist den vier Männern und vier Frauen zu einem Zuhause geworden, in dem sie bleiben wollen. Am liebsten für immer.